Rezension Rezension (4/5*) zu Die Spiegel von Kettlewood Hall: Roman von Maja Ilisch.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Schach im Gaslicht


Bevor ich euch meine Meinung zu diesem Buch verrate, möchte ich erst ein paar Worte zu seinem Genre sagen:

Es handelt sich hier um klassische ‘Gaslight Fantasy’, ein Subgenre der Genres ‘Historisch’ und ‘Fantasy’ – verwandt, aber nicht identisch mit dem Genre ‘Steampunk’.

Wie beim ‘Steampunk‘ sind die Geschichten zumeist im Viktorianischen oder Edwardischen Zeitalter angesiedelt, dabei spielt Technologie (insbesondere dampfbasierte Technologie), bei der ‘Gaslight Fantasy’ jedoch normalerweise keine oder kaum eine Rolle.

Es gibt Überschneidungen mit der englischen Schauerliteratur, der sogenannten ‘Holmesian Fantasy’ und ähnlichen Subgenres.

Wie die Zuordnung zu diesem Genre vermuten lässt, begegnet dem Leser in ‘Kettlewood Hall‘ gepflegter viktorianischer Grusel. Alles ganz dezent, ohne Blutbad oder Gewaltorgie – eben ‘Gaslight’ und kein Kettensägenmassaker

Geschichte und Schreibstil warten mit dichter Atmosphäre auf.

Das ist stimmungsvoll und düster, auf angenehme Art unheimlich und fesselnd… Die Autorin findet großartige Bilder, die es dem Leser ermöglichen, jede Szene bildlich vor sich zu sehen. Aber es sind nicht nur die Schauplätze, die die Fantasy des Lesers kitzeln: dazu kommen noch mysteriöse und sonderbare Charaktere , die etwas Unwirkliches an sich haben und und im Wunderland nicht gänzlich fehl am Platz wirken würden

Die Mischung auf Historie, Abenteuer und Fantasy funktioniert wunderbar, und die Atmosphäre ist dabei der Kitt, der alles zusammenhält.

(Als katastrophal untalentierter Schachspielerin, die dennoch gerne spielt, haben mir natürlich besonders die Szenen gefallen, in denen das Schachspiel von Kettlewood Hall eine zentrale Rolle spielt und Iris über ihren nächsten Zug nachdenkt.)

Die Sprache kam mir manchmal etwas zu modern vor für eine Geschichte, die im viktorianischen Zeitalter spielt, aber sie liest sich sehr flüssig und angenehm. Romane mit historischen Hintergrund verlangen Autoren grundsätzlich einen Drahtseilakt ab: wo der eine Leser auch bei der Sprache größtmögliche historische Akkuratesse verlangt, würde genau diese hundert andere Leser abschrecken.

Maja Ilisch gelingt in meinen Augen ein guter Kompromiss.

Die Spannung baut sich eher langsam auf, aber das hat mich nicht gestört – ein rasantes Tempo hätte sicher weniger Platz für Stimmung und Kopfkino gelassen. Die Geschichte hat ihr eigenes Tempo und ihren eigenen Takt. Es gibt nicht für jedes Problem eine Lösung, nicht für jeden Charakter ein Happy End, und obwohl ich das zum Teil sehr bitter fand, ist es für die damalige Zeit einfach realistisch

Der Fokus liegt auf einer kleinen Anzahl von wichtigen Charakteren, und diese sind glaubhaft, authentisch und lebhaft gezeichnet.

Im Mittelpunkt steht die 14-jährige Fabrikarbeiterin Iris Barling.

Obwohl sie so jung ist, blickt sie doch schon auf ein hartes Leben zurück. Seit ihrer Kindheit schuftet sie tagtäglich für viele Stunden in der Textilfabrik und hat dabei bereits zwei Finger eingebüßt. (An dieser Stelle musste ich an meinen Großvater denken, der auf ganz ähnliche Weise ein paar Finger in der Fabrik verlor.) Dazu kommt noch, dass sie sich ständig verteidigen muss gegen die ungebeten ‘Angebote’ verschiedener Männer.

Iris macht eine große Entwicklung durch, im Laufe der Geschichte erweist sie sich als entschlossen und mutig. Sie ist sehr ungebildet – aber das ist nicht ihre Schuld, obwohl den Kinderarbeitern seit kurzer Zeit zwei Stunden Unterricht pro Tag zustehen.

Aber wie soll man sich auf Schularbeit konzentrieren, wenn man todmüde ist und der Magen knurrt?

Ich habe ganz besonders gefeiert, als sie die Bedeutung von Büchern und Bildung begreift und sich mit Entschlossenheit daransetzt, dass niemand sie jemals wieder dumm nennen kann. Sie wirkt älter als ihre 14 Jahre, was aber sicher daran liegt, dass sie schon sehr früh erwachsen werden musste.

Ihre Großmutter ist ein zutiefst unsympathischer Mensch – eine bösartige, hinterhältige alte Vettel, die Iris scheinbar keinerlei Liebe entgegenbringt, und die deshalb auch kein weiteres Wort verdient.

Ihr Lehrer wird im ersten Teil der Geschichte zu einer Schlüsselfigur in ihrem Leben.

Als Säufer, der seine Schüler oft quält oder ignoriert, ist er zunächst nun wirklich keine Sympathiefigur. Aber als er die Schachfigur sieht, die Iris von ihrer Mutter geerbt hat, bewirkt das etwas in ihm. Vielleicht eine Rückbesinnung darauf, warum er ursprünglich Lehrer werden wollte? Man kann erahnen, dass er im Grunde kein schlechter Mensch ist – nur desillusioniert von der schier unmöglichen Aufgabe, erschöpfte, überarbeitete und halb verhungerte Kinder zu unterrichten.

Er bringt Iris das Schachspielen bei und unterstützt sie bei ihrem Plan, Kettlewood Hall aufzusuchen, auch wenn seine Alkoholsucht ihnen da ein Bein stellt.

Iris’ Mutter steht eher am Rand der Geschichte, obwohl sie für ihre Tochter natürlich ein sehr wichtiger Mensch war.

In Kettlewood Hall nimmt stattdessen ihr Gegenspieler eine sehr große Rolle in der Geschichte ein. Iris weiß zunächst nicht, wer er ist oder ob sie es überhaupt mit einem Mensch oder vielmehr mit einem Geist oder Dämon zu tun hat. Auf jeden Fall ruft er schon bald sehr widersprüchliche Gefühle in ihr hervor. (Und nein, ich spreche hier nicht von romantischen Gefühlen.)

Apropos: so ganz ohne Liebesgeschichte kommt Kettlewood Hall nicht aus, was ich als Liebesromanmuffel nicht unbedingt gebraucht hätte… Insofern ist auch Victor, der Sohn des Earls, einer der Schlüsselcharaktere – im Vergleich zu Iris oder auch seinen Schwestern blieb er für mich jedoch etwas blass.

FAZIT

England im Viktorianischen Zeitalter: Die junge Iris hat von ihrer Mutter eine Schachfigur geerbt, die diese vor vielen Jahren ihrem letzten Arbeitgeber gestohlen haben muss. Auf der Suche nach ihren Wurzeln folgt Iris der Spur dieser Figur bis zum Herrenhaus ‘Kettlewood Hall’. Dort erwartet den Leser eine auf ruhige Art gruselige Geschichte rund um ein merkwürdiges Schachspiel, das möglicherweise verflucht ist…

Alleine schon durch den wunderbaren Schreibstil und die dichte Atmosphäre konnte mich die Geschichte für sich gewinnen. Aber mir hat auch sehr gefallen, was für eine grandiose Entwicklung die junge Heldin in ihrem Verlauf durchmacht.


 
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