Rezension Rezension (5/5*) zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee
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Unter Wert in der Fremde

Min Jin Lee hat mit ihrem Roman „Pachinko“ in den USA große Erfolge feiern können und es bis auf die Shortlist des National Book Awards geschafft. Das Familienepos über eine koreanische Familie, die als Migranten in Japan lebt, ist im dtv-Verlag auf Deutsch unter dem Titel „Ein einfaches Leben“ erschienen. Ich konnte es im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin lesen und so in eine Welt eintauchen, die mir bis dahin vollkommen unbekannt war, die aber voller universeller und genereller Erkenntnisse steckt mit einem hohen Grad an Übertragbarkeit auf Familienschicksale und -geschichten auch in anderen Teilen unserer Erde.
Min Jin Lee ist eine Amerikanerin, die im Alter von 8 Jahren zur Migrantin wurde, als sie mit ihren Eltern aus Korea in die USA immigrierte. 20 Jahre lang hat sie für „Pachinko“ rund um die Geschichte der Koreaner in Japan recherchiert. Diese intensive Recherchearbeit schlägt sich deutlich und wertvoll in der kenntnisreichen Schilderung von Geschichte und Lebensumständen im Roman nieder.
Zur Geschichte:
Im Zentrum des Romans stehen zwei Brüder – Noa und Mozasu. Langsam, sehr langsam nähert sich die Autorin deren Leben, indem sie vorbereitend zunächst ausführlich Eltern- und Großeltern und deren Lebenssituation und Hintergründe in Korea und Japan in den Roman einführt. Es ist von Beginn an deshalb deutlich: Herkunft spielt für die Autorin in dieser Geschichte eine herausgehobene Rolle für die Schicksale ihrer Helden und Herkunft ist ein wesentliches Thema des Romans. Noas und Mozasus Mutter Sunja ist als junge, schwangere Frau ihrem Ehemann Isak, der als christlicher Priester in einer koreanischen Gemeinde in Japan arbeitet, nach Japan in die Migration gefolgt. Hier lebt die Familie zusammen mit Isaks Bruder und dessen Frau in einem koreanischen Ghetto, immer ausgegrenzt von der japanischen Stammbevölkerung, mit sehr eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten und an den Rand der Gesellschaft gedrückt:
„… gab es niemanden, der keine Geldsorgen hatte oder den nicht die schreckliche Frage plagte, wie er seine Familie in diesem befremdlichen und schwierigen Land ernähren sollte."
Bleiben oder Gehen ist und bleibt ein Leben lang Thema in diesem Leben der Ausgrenzung und Diskriminierung. Der Roman vermittelt über die beiden Brüderfiguren und eine Fülle anderer Personen sehr eindringlich die Gefühle, die sich aus Fremdsein und Ausgrenzung entwickeln:
"Jeden Tag unter Menschen zu leben, die nicht sehen wollen, dass du ein Mensch bist wie sie ....."
Die beiden Brüder reagieren unterschiedlich auf diese Lebenssituation. Während sich Noa in eine Form der Überassimilation flüchtet und versucht, so japanisch wie nur irgend möglich zu sein, sieht Mozasu sein Heil in der inneren Immigration, d.h. er flüchtet sich in die koreanische Lebensweise und lebt in einer Migranten-Parallelwelt. Die Familie kommt für Migrantenverhältnisse einigermaßen zu Wohlstand durch Geschäftstätigkeit im Spielhallen-Business (Pachinko). Dieses Betätigungsfeld am Rande der Kriminalität und fernab von gesellschaftlicher Achtung ist eines der wenigen, das den koreanischen Einwanderern überlassen wird. Japaner lassen sich zwar gern vom Pachinko unterhalten, halten aber wegen der gesellschaftlichen Ächtung bewusst Abstand dazu.
In diesem geächteten Bereich lebt die Familie und insbesondere eine der Hauptfiguren Mozasu so sauber und nicht-kriminell es irgendwie geht und richtet sich so in der Realität ein. Der Weg zurück nach Korea ist sowieso immer stärker verschlossen, denn inzwischen ist das Heimatland geteilt und der Norden des Landes, wo das Heimatdorf der Familie liegt, wird von einem kommunistischen Terrorregime regiert, dem – gemäß der spärlichen Informationslage, über die die Familie dazu verfügt – einige Rückkehrer und Dagebliebene als sogenannte „Besitzende“ schon zum Opfer gefallen sind. Andere Auswege werden deshalb gesucht. Das klassische Auswanderungsland USA ist eine Option. Zumindest für den Sohn Solomon, der dort studiert, danach aber wieder nach Japan zurückkehrt, um im Bankensektor zu arbeiten. Aber auch mit dieser guten Ausbildung und mit diesem Hintergrund kann er der Diskriminierung nicht entfliehen und kann sich im Bankengeschäft nicht halten.
Noa, Mozasu, Solomon – drei männliche Helden, deren hartes Ringen um Anerkennung und eine Lebensperspektive mit dem Hintergrund „koreanischer Migrant“ in Japan der Roman ausführlich im Rahmen einer großangelegten Familiensaga schildert, landen schließlich alle drei auf sehr unterschiedlichen Wegen doch an der gleichen Stelle: im Pachinko-Geschäft, wie schon die Familiengeneration vor ihnen. Die japanische Gesellschaft hat ihnen diese Nische zugewiesen und hat darüber hinaus nicht die Bereitschaft, diese Nische zu erweitern und sich dem Können und Wissen dieser Gesellschaftsgruppe zu öffnen, um sie für ihr Land nutzbar zu machen: eine Verschwendung von menschlichen Ressourcen und von menschlichem Können schildert so der Roman und wirkt so über die eigentliche Geschichte hinaus mit einer Botschaft, die Min Jin Lee sicher in erster Linie in ihr neues Heimatland USA hinaussendet. Die aber auch bei uns Platz und Nutzen hat. Deshalb wünsche ich dem Buch auch bei uns eine große und breite Leserschaft.
Mein Fazit:
Min Jin Lee schafft es mit diesem Roman, Welten in den Köpfen ihrer Leser zu schaffen und sie zu entführen in neue, fremde Umgebungen. Sie schafft einen Filmstoff, der auf Umsetzung durch einen Regisseur wartet. Und sie schafft es, das Schicksal von Migranten und deren Leben in der ausgrenzenden Fremde zum Leben zu erwecken. Dahin, wo man gerne wegschaut und denkt, über die eigenen Vorurteile sowieso schon genug Bescheid zu wissen, richtet sie das Augenmerk des Lesers. Und vermittelt ihm so ganz andere Wahrheiten und Einsichten als die Vorurteile nahezulegen versuchen. Es ist deshalb ein ungemein aktueller Roman, der mich zutiefst bewegt und berührt hat.
5 STERNE – ohne Frage!


 

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