Rezension Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war

Momo

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10. November 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Als ich ein kleiner Junge war von Erich Kästner
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Eine wunderschöne Erich-Kästner-Autobiografie, die nicht nur mich glücklich macht, sondern auch meine Lesegruppe. Ich liebe Kästners Humor, der uns schon im Vorwort erfüllt hat. Seine Art zu schreiben finden wir genial. Auffällig sind auch die vielen geduldigen Aufzählungen, die mich jedes Mal zum Lachen gebracht haben.

In meiner Besprechung werde ich nicht alle autobiografische Daten aufzählen, sondern nur das Notwendigste.

Die Handlung
Bevor der kleine Erich 1899 in Dresden geboren wird, bekommt man es erst mal mit Leuten zu tun, die für ihn später eine große Rolle spielen werden. Genannt werden hier die Augustins und die Kästners. Nicht, dass diese beiden Familien aus Liebe zueinanderfanden, speziell was die werdenden Eltern des kleinen Erichs betrifft. Aber sie fanden zueinander und das ist die Hauptsache … Die Mitglieder der Familie Kästner kamen alle aus verschiedenen Handwerksberufen.

Die Herkunft
Christian Gottlieb Kästner,
der Großvater, kam aus einer sächsischen Kleinstadt und lebte mit seiner Frau in Penig und war Tischlermeister. Sie hatten elf Kinder, wovon fünf im Kleinkindalter gestorben sind. Emil Kästner, Erichs Vater, 1867 geboren, erlernte das Sattler und das Tapezierhandwerk.

Ida Amalia Kästner, Erichs Mutter, 1871 geboren, kommt auch aus einer sächsischen Familie und hieß mit Mädchennamen Augustin. Auch sie stammt mit sieben Brüdern und vier Schwestern aus einer Großfamilie, die in einem Bauernhaus wohnten.

Ida wurde mit 16 Jahren Stubenmädchen und verrichtete dadurch sämtliche im Haus anfallenden Hausarbeiten.

Mit zwanzig Jahren lernte sie Emil Kästner kennen, als ihre Tante den 24-jährigen jungen Mann ins Haus einlud. Obwohl Ida keinerlei Liebe für Emil empfand, ließ sie sich dennoch auf eine Bindung ein, da die Liebe, laut der Tante, sich in der Ehe noch entwickeln könne.

Am 31.07.1892 wurden Ida Augustin und Emil Kästner in einer protestantischen Dorfkirche getraut. Auch wenn es keine Liebesheirat war, und mehr eine Zweckehe, wäre Erich niemals geboren, wenn sich das Paar nicht füreinander entschieden hätte. Siehe dazu passendes Zitat am Ende dieser Besprechung.

Hierbei fällt mir parallel dazu ein Spruch aus der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ein:

[zitat]Die Welt kann so schlecht nicht sein. Denn sie hat uns Erich Kästner geschenkt. [/zitat]

So schlecht kann also auch diese Heirat nicht sein ...
Das Ehepaar verließ die Heimat, da Emil als Sattlermeister nicht mehr genug verdiente. Sie zogen nach Dresden zu Emils Onkel, der seinem Neffen bessere berufliche Aussichten versprach.

Emil und Ida wünschten sich Kinder, doch leider wollte es damit nicht sofort klappen. Erst Jahre später wurde Ida von Erich schwanger. Schließlich erfüllte sich dieser Kinderwunsch, als Erich 1899 zur Welt kam. Die Eltern liebten ihr Kind über alles. Erstrecht, weil sie die Erfahrung machen mussten, dass es für sie nicht so leicht war, ein Kind in die Welt zu setzen ...

Aber das Geld reichte nicht, und so wollte Ida mit zum Lebensunterhalt beitragen. Ein Zimmer in ihrer Wohnung wurde an einem Lehrer untervermietet. Jahre später erlernte Ida das Friseurhandwerk und machte sich nach der Ausbildung damit selbstständig.

Erich wusste recht schnell, was er später für einen Beruf ergreifen wollte. Er wusste so ziemlich genau, dass er sich zu einem künftigen Lehrer berufen fühlte. Vorbilder hatte er schließlich durch die Untermieter genug. Zog ein Lehrer wieder aus, zog ein anderer Lehrer ein …

Erich liebte Bücher und lernte recht schnell die Welt der Buchstaben kennen.

[zitat]Ich las, als wäre es Atemholen. Als wäre ich sonst erstickt. Es war eine fast gefährliche Leidenschaft. Ich las, was ich verstand und was ich nicht verstand. >>Das ist nichts für dich<<, sagte meine Mutter, >>das verstehst du nicht!<< Ich las es trotzdem. Und ich dachte: >>Verstehen denn die Erwachsenen alles, was sie lesen?<< Heute bin ich selber erwachsen und kann die Frage sachverständig beantworten: Auch die Erwachsenen verstehen nicht alles. Und wenn sie nur läsen, was sie verstünden, hätten die Buchdrucker und die Setzer in den Zeitungsgebäuden Kurzarbeit. (2017, 82)[zitat]

Erich war nicht nur ein intelligentes Kind, er war auch ein sehr empathischer kleiner Mensch, der ziemlich genau die Stimmung seiner Mutter wie ein Schwamm in sich aufnahm. Die Mutter litt an einer Depression und war dadurch suizidgefährdet. Mehrmals versuchte sie über eine Brücke zu springen, wäre nicht ihr Sohn gewesen, der das zu verhindern wusste … Das machte Erich sehr traurig, und besorgt suchte er den Rat eines Arztes auf, der seine Familie gut kannte. Ein wundervoller Arzt, der Kinder ernst zunehmen wusste.

[zitat]>>Sie erzählen ihr nicht, dass ich hier war?<< >>Na, erlaube mal! Natürlich nicht“<< >>Und Sie glauben nicht, dass sie wirklich von der Brücke … vielleicht ... eines Tages…?<< >>Nein<<, sagte er, >>das glaube ich nicht. Auch wenn sie alles um sich her vergisst, wird ihr Herz an dich denken.<< Er lächelte. >>Du bist ihr Schutzengel.<<[/zitat]

Leider stand die Mutter doch mehrmals auf der Brücke, aber es war immer Erich, der das Schlimmste zu verhindern wusste. Wie der Arzt schon sagte, Erich war der Schutzengel seiner Mutter.

Zum Schreibkonzept
Auf den 189 Seiten ist Erich Kästners Kindheit und Jugend in sechzehn Kapiteln und Unterkapiteln unterteilt. Es gibt ein Vorwort und ein Nachwort. Sehr schön fand ich im Vorwort die Anrede an die Kinder und an die Nichtkinder . Kästner spielt mit der Sprache, und lockert damit auch schwere Themen auf. Eine flüssige und leicht verständliche Autobiografie. Schade, dass sie so früh schon aufhörte. Mich hätte es noch interessiert, wie Erich als Erwachsener seinen Weg machte und was aus seinen Eltern geworden ist.

Cover und Buchtitel
Die Zeichnung auf dem Cover finde ich witzig, aber im Buch gibt es eine Szene, die genau dieses gezeichnete Kind beschreibt.

Eine besondere Szene, die mir gefallen hat
Das Kapitel Folgeschwere Hochzeiten fand ich richtig spannend, als Erichs Mutter, erfolgreiche Friseurin, von einer unbekannten Kundin namens Fräulein Strempel aufgesucht wurde. Aufgrund ihrer Heiratspläne vereinbarte das ältere Fräulein mit Erichs Mutter einen Frisiertermin, der an dem Hochzeitstag bei der Kundin für acht Uhr bei sich zu Hause angesetzt war, um zehn Damenköpfe festlich herrichten zu können. Als Frau Kästner das Fräulein zum vereinbarten Termin aufsuchte, und an der Türe klingelte, wurde sie von einer unbekannten Dame abgewiesen, da hier kein Fräulein Strempel wohnen würde. Ida Kästner wurde gefoppt. Niedergeschlagen ging sie wieder nach Hause. Ein Verlustgeschäft musste nun materiell und immateriell verkraftet werden, wäre nicht Erich, der das Ganze wieder ins Lot bringen konnte. Erich hatte sich nämlich das Gesicht dieser Dame eingeprägt. Durch Zufall läuft sie ihm eines Tages über den Weg und Erich spioniert ihr unauffällig hinterher. Detektivisch bekommt er heraus, dass sie in einem Kaufhaus in einer Damenabteilung arbeitet … Erich sucht den Geschäftsführer auf, und erzählt ihm von dem Betrug. Der Geschäftsführer schickt die Verkäuferin mit Erich nach Hause, damit sie mit der Mutter eine Ratenzahlung vereinbaren konnte, um für den Schaden aufzukommen.

Warum das Fräulein diesen Betrug veranlasst hatte, werde ich nicht verraten.

Meine Meinung
Eine gelungene Autobiografie. Nicht nur der erwachsene Erich Kästner ist mir sympathisch, sondern auch der junge ist mir durch dieses Buch noch mehr ans Herz gewachsen, sodass ich vorhabe, im neuen Jahr ein Erich-Kästner-Leseprojekt mit auf meinem Blog zu nehmen. Mich zieht nicht nur sein Schreibstil an, sondern auch zu seinem Humor und zu seinem Charakter fühle ich mich ganz besonders hingezogen.

[zitat]Wenn man sich überlegt, von welchen Zufällen es abhängt, dass man eines Tages in der Wiege liegt (…). Wenn der junge Sattler von Penig nicht nach Döbeln gezogen wäre, sondern beispielsweise nach Leipzig oder Chemnitz, oder wenn das Stubenmädchen Ida nicht ihn geheiratet hätte (…) wäre ich nie auf die Welt gekommen. Dann hätte es nie einen gewissen Erich Kästner gegeben, der jetzt vor seinem Schreibblock sitzt und euch von seiner Kindheit erzählen will! Niemals!Das täte mir, bei Lichte betrachtet, sehr leid. Andrerseits: Wenn es mich nicht gäbe, könnte es mir eigentlich gar nicht leidtun, dass ich nicht auf der Welt wäre! Nun gibt es mich aber, und ich bin im Grunde ganz froh darüber. Man hat viel Freude davon, dass man lebt. Freilich auch viel Ärger. Aber wenn man nicht lebte, was hätte man dann? Keine Freude. Nicht einmal Ärger. Sondern gar nichts! Also, dann habe ich schon lieber Ärger. (38f)[/zitat]

Der kleine Erich hatte Glück, so tolle Eltern zu haben, die zulassen konnten, dass der kleine Mann sein vollstes innere Potenzial entfalten konnte. Es gab und es gibt noch immer viel zu viele kleine Menschen, die von ihren Eltern ihre Ideale ausgeredet bekommen haben.

Mein Fazit
Durch diese Autobiografie kann ich nun auch die Kinderbücher vom Hintergrund her besser verstehen. Vor allem das Buch Pünktchen und Anton brachte mich sehr häufig zum Nachdenken, auch, als dieses Buch später verfilmt wurde. Wie konnte ein kleiner Junge wie Anton seine kranke Mutter versorgen? Er übernahm komplett den ganzen Haushalt, kochte für sie und half in einer Kneipe aus, in der die Mutter arbeitete. Um die Stelle nicht zu verlieren, ersetzte Anton auch hier seine kranke Mutter. Ein kleiner Erwachsener war er für mich und mir diese Rolle zu übertrieben erschien. Aber nun weiß ich, woher dieser Hintergrund stammt. Der kleine Erich hatte sich auch sehr häufig um seine kranke Mutter gekümmert und übernahm wie der kleine Anton jede Menge Aufgaben im Haushalt, bis die Mutter wieder bei Kräften war.

Für mich und für meinen Lesekreis ist dies eine sehr interessante und sehr lesenswerte Autobiografie gewesen. Viele ältere Mitleserinnen konnten Parallelen zu ihrem eigenen Leben ziehen, und man dadurch leicht ins Gespräch kam. Es hat mir großen Spaß gemacht, das Buch mit meiner Runde zu lesen.[/zitat][/zitat]
 
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