Rezension Rezension (5/5*) zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee
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‘Pachinko’

Min Jin Lee schrieb mit diesem Buch einen wahrhaft epischen Generationenroman, der die japanisch-koreanische Geschichte thematisiert. (Der Klappentext reduziert die Handlung zu sehr auf drei der Charaktere!) Laut Wikipedia war “Pachinko”, so der Originaltitel, der erste Roman, der diese Thematik für eine erwachsene englischsprachige Leserschaft aufgriff. Das Buch wurde 2017 für den “National Book Award” nominiert und war unter den Finalisten.

‘Vielschichtig’, ‘komplex’ und ‘differenziert’ sind Worte, die mir auf Anhieb in den Sinn kommen – auch ‘unbedingt lesenswert’ schließt sich ihnen an.

Die Autorin beleuchtet in ihrem Werk kulturelle Eigenheiten, Vorstellungen und Wertesysteme, die dem nicht-asiatischen Leser vollkommen fremd sind.

Als Beispiel möchte ich hier nur das Thema Selbstmord anführen, das im Buch mehrfach eine Rolle spielt. So wählt ein Charakter aufgrund eines als untragbar empfundenen Ehrverlustes den Freitod und lässt damit geliebte Menschen in einer sehr schwierigen, fast schon unerträglichen Situation zurück.

Konnte ich das aus meiner Sicht heraus verstehen? Nein. Konnte ich es aus meiner heraus Sicht verurteilen? Ebenfalls nein. Denn Min Jin Lee gelingt es, dem Leser zu zeigen, dass der Charakter in seiner Situation, seinem kulturellen Umfeld, keine andere Alternative sieht.

Überhaupt sind ihre Charaktere jederzeit glaubhaft und in sich schlüssig, auch wenn sie unter Umständen Dinge tun, die dem Wertesystem des Lesers zuwider laufen.
Es geht viel um Vorurteile und Diskriminierung und deren Auswirkungen auf beide Seiten des Konflikts. Mit den Hauptfiguren habe ich innigst mitgefiebert, aber auch die Nebenfiguren werden sehr aussagekräftig beschrieben. Die Autorin zeichnet ihre Geschichte mit nicht weniger liebevollem Strich

Der Schreibtil ist unprätentiös und ruhig, und dennoch zieht er den Leser hinein in eine Geschichte, die emotional viel auslösen kann.

Ich zögere, für so eine Geschichte Wörter wie “spannend” und “unterhaltsam” zu gebrauchen.

Einige Entwicklungen machen zutiefst betroffen, viele der Charaktere erleiden tragische Schicksale. Mehr als einmal hatte ich einen Kloß im Hals, ein Brennen in den Augen – und das, ohne dass die Autorin das mit künstlichem Pathos forciert hätte. Auch Kitsch und Klischees umschifft sie in meinen Augen elegant.

Daher kann ich das Buch nach reiflicher Überlegung sowohl als spannend als auch als unterhaltsam bezeichnen. Man muss sich als Leser nie dazu quälen, weiterzulesen, auch wenn die Geschichte gerade schmerzt. Man sträubt sich nicht gegen ihre Tragik, und das spricht sehr für die Erzählkunst der Autorin.

Ich habe durch das Buch viel gelernt.

Erst beim Lesen dieser Geschichte ist mir klar geworden, wie oberflächlich und lückenhaft meine Kenntnisse über die koreanische Kultur tatsächlich sind: Kim Jong Un. Propagandafilme mit breit lächelnden Frauen, die Korea als das glücklichste Land der Welt bezeichnen. Vage Erinnerungen an eine Dokumentation über die “Trostfrauen” (zum Teil aus Korea), die in japanischen Kriegsbordellen zwangsprostituiert wurden.

Ich habe das Gefühl, jetzt erstmals wirklich einen Eindruck in die Lebenswirklichkeit der japanisch-koreanischen Geschichte erhalten zu haben.

FAZIT

Min Jin Lee legt mit “Ein einfaches Leben” (im Original “Pachinko”) einen Generationenroman vor, der eine ungemeine Wirkung entfaltet. Die Geschichte verfolgt das Schicksal einer koreanischen Familie und spricht dabei zahlreiche Themen an, von Migration und Ausgrenzung über den Ehrbegriff in der koreanischen und japanischen Kultur bis hin zu der Frage, was Familie überhaupt ausmacht.

 
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