Rezension Rezension (5/5*) zu Ein Winter in Paris: Roman von Jean-Philippe Blondel.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.857
7.737
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Wendepunkte...


Victor hat die Provinz hinter sich gelassen und ist zum Studium nach Paris gezogen. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, der Druck an der Uni ist hoch. Victor ist einsam und fühlt sich unsichtbar. Einzig mit Mathieu, einem Jungen aus dem Kurs unter ihm, raucht Victor hin und wieder eine Zigarette. Als Mathieu in den Tod springt, verändert sich für Victor alles. Plötzlich wird er, der einzige Freund des Opfers, sichtbar. Seine Kommilitonen interessieren sich plötzlich für ihn, und langsam entwickelt er zu Mathieus Vater eine Beziehung, wie er sie zu seinem eigenen Vater nie hatte. - „Ein Winter in Paris“ ist ein sensibles und zärtliches Buch über das, was uns Menschen zusammenhält.

Es gibt Erlebnisse, die stellen einen Wendepunkt im Leben dar - einen Knall, der unaufhaltsam alles verändert, was zuvor war, der alles hinterfragt, der Beziehungen verschiebt, Wertungen neu fokussiert und zuweilen ganze Lebensläufe umlenkt. Solch ein 'Knall' steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Jean-Philippe Blondel und mit ihm der 19jährige Victor.


"Wir halten wesentlich mehr aus, als wir immer denken." (S. 10)


Tatsächlich ist der Buchtitel treffend gewählt - und diesmal auch wörtlich vom französischen Original übernommen: 'Un hiver à Paris'. Denn es geht in diesem Roman hauptsächlich um die Ereignisse in diesem einen Winter, in dem Victor sich in seinem zweiten Jahr der Vorbereitungsklasse des literarischen Zweiges befindet, in der man sich auf das Auswahlverfahren für eine der elitären Écoles normales supérieures vorbereitet.

Das erste schwierige Jahr liegt bereits hinter Victor, das ihm aufgezeigt hat, dass er als ein Junge aus der Provinz nicht wirklich dazu gehört, weil er in seiner Kindheit und Jugend nicht wie die meisten anderen Studenten mit Kultur gefüttert wurde. Auch ansonsten fehlen ihm die Zugangscodes, die dafür sorgen würden, auf Feten eingeladen oder auch überhaupt nur angesprochen zu werden. So war das erste Jahr nicht nur mit einem immensen Lernpensum gefüllt, sondern für Victor vor allem eines: einsam.


"Als ich die Ergebnisse der Notenkonferenz erfuhr, habe ich jedoch keinen Freudensprung gemacht. Schließlich bedeutete das nur, dass ich ein weiteres Jahr an diesem Lycée, an dem ich ein Niemand war, ignoriert werden würde." (S. 23)


Zu Beginn seines zweiten Jahres am Lycée lernt Victor in den Pausen Mathieu kennen, ein Außenseiter wie er selbst und eine Klasse unter ihm. Während sie gemeinsam rauchen, entdecken sie die Ähnlichkeiten ihrer Rollen, doch über einen anfänglichen Kontakt kommen sie nicht hinaus. Denn mit einem Schrei stürzt sich Mathieu bald darauf aus einem Fenster der Schule und kommt so zu Tode.

Dies ist der 'Knall', der alles scheinbar Festgefügte ins Rutschen und Victor gehörig aus dem Gleichgewicht bringt. Oft wacht er nachts auf, weil er den Schrei wieder hört, doch plötzlich ist Victor auch für seine Mitstudenten sichtbar. Als vermeintlicher Freund des Opfers ist er nun auch selbst ein Opfer und damit interessant für die anderen. Er wird angesprochen, eingeladen, wahrgenommen. Und beginnt dies bei aller Irritation allmählich auch zu genießen.


"Matheius Körper war nur ein Stein gewesen, den jemand in einen Teich geworfen hatte. Der Aufprall hatte zwar einige Ringe erzeugt, die sich für einige Sekunden ausbreiteten, doch danach war die Wasseroberfläche wieder glatt geworden. Vielleicht hatten sich ein oder zwei Badende an diesem neuen Hindernis, das im Boden steckte, in den Fuß geschnitten, doch die Wunde hatte sich rasch wieder geschlossen (...) Das hätte Mathieu eigentlich klar sien müssen. Ob er lebte oder tot war, machte keinerlei Unterschied. Dann lieber leben." (S. 158)


Viele Aspekte werden in diesem gerade einmal 190 Seiten starken Roman angesprochen und beleuchtet. So wird beispielsweise das Schulsystem nebenher kritisch hinterfragt, der Druck, der auf den Studenten lastet, die Allmacht der Lehrer, die ihre Neurosen oftmals ungestraft auf Kosten der Schüler ausleben können, das elitäre Denken... Und es werden die Macht und Undurchlässigkeit sozialer Unterschiede aufgezeigt, die einen nahezu entwurzeln lassen, wenn man neue Kenntnisse und Kompetenzen erwirbt, die einen vom eigenen Ursprung unwiderbringlich entfernen.

Doch es ist die persönliche Entwicklung Victors, die in diesem Roman zentral im Mittelpunkt steht, seine anfängliche emotionale Unterkühltheit, seine Unsicherheit bezüglich seines Lebensweges, seine große Distanz gegenüber seinen Eltern - alles beginnt sich aufzulösen und zu wandeln. So bieten Victor und der Vater von Mathieu einander nach dem Tod des jungen Mannes gegenseitig Halt, suchen dabei etwas beim anderen, das sie womöglich nicht finden werden.


"Und deshalb brauchten Sie ... ja, was eigentlich? Was kann man bei einem Vater finden, der kürzlich seinen Sohn verloren hat?" - "Ich weiß nicht ... einen Platz?" (S. 171)


Jean-Philippe Blondel gelingt es trotz der überschaubaren Seitenzahl viel Inhaltliches zu präsentieren und auszudrücken. Der Schreibstil ist dabei oft bewusst distanziert gewählt, entfaltet jedoch gleichzeitig eine unglaubliche Intensität, der sich der Leser nicht entziehen kann. Die Verwirrung, die Betäubung der Gefühle ist nahezu greifbar, die Orientierungslosigkeit, die Suche des jungen Mannes nach seinem Platz im Leben - erschüttert durch den Selbstmord eines eigentlich nur oberflächlich bekannten Mitschülers.

Bei derartigen Büchern beschäftigt mich immer der Gedanke, ob darin nicht auch ein autobiografischer Anteil des Autors mitschwingt. Und tatsächlich verrät Blondel in einem Interview mit dem Hanser Verlag:


"Im Oktober 1984 war ich zwanzig Jahre alt. Ich bereitete mich in einem großen Lycée in Paris auf das Studium vor. Einer der Studenten aus der Klasse gegenüber der unseren hat genau das gemacht, was Mathieu im Buch tut. Der Schrei blieb all die Jahre in mein Gedächtnis eingebrannt. Es passiert mir immer noch, dass ich nachts aufwache, weil ich ihn höre. Victor ist dem, der ich damals war, sehr ähnlich (auch wenn mein Leben viel komplizierter war). Er ist ein Doppelgänger, ein Bruder – ich habe ihn in mir leben/wiederaufleben gespürt, als ich den Roman geschrieben habe." (Quelle: 5 Fragen an Jean-Philippe Bondel)


Ein leiser Roman, sensibel und sprachgewaltig - beeindruckend!


© Parden

 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.306
18.945
49
48
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Wendepunkte...



Victor hat die Provinz hinter sich gelassen und ist zum Studium nach Paris gezogen. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, der Druck an der Uni ist hoch. Victor ist einsam und fühlt sich unsichtbar. Einzig mit Mathieu, einem Jungen aus dem Kurs unter ihm, raucht Victor hin und wieder eine Zigarette. Als Mathieu in den Tod springt, verändert sich für Victor alles. Plötzlich wird er, der einzige Freund des Opfers, sichtbar. Seine Kommilitonen interessieren sich plötzlich für ihn, und langsam entwickelt er zu Mathieus Vater eine Beziehung, wie er sie zu seinem eigenen Vater nie hatte. - „Ein Winter in Paris“ ist ein sensibles und zärtliches Buch über das, was uns Menschen zusammenhält.

Es gibt Erlebnisse, die stellen einen Wendepunkt im Leben dar - einen Knall, der unaufhaltsam alles verändert, was zuvor war, der alles hinterfragt, der Beziehungen verschiebt, Wertungen neu fokussiert und zuweilen ganze Lebensläufe umlenkt. Solch ein 'Knall' steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Jean-Philippe Blondel und mit ihm der 19jährige Victor.


"Wir halten wesentlich mehr aus, als wir immer denken." (S. 10)


Tatsächlich ist der Buchtitel treffend gewählt - und diesmal auch wörtlich vom französischen Original übernommen: 'Un hiver à Paris'. Denn es geht in diesem Roman hauptsächlich um die Ereignisse in diesem einen Winter, in dem Victor sich in seinem zweiten Jahr der Vorbereitungsklasse des literarischen Zweiges befindet, in der man sich auf das Auswahlverfahren für eine der elitären Écoles normales supérieures vorbereitet.

Das erste schwierige Jahr liegt bereits hinter Victor, das ihm aufgezeigt hat, dass er als ein Junge aus der Provinz nicht wirklich dazu gehört, weil er in seiner Kindheit und Jugend nicht wie die meisten anderen Studenten mit Kultur gefüttert wurde. Auch ansonsten fehlen ihm die Zugangscodes, die dafür sorgen würden, auf Feten eingeladen oder auch überhaupt nur angesprochen zu werden. So war das erste Jahr nicht nur mit einem immensen Lernpensum gefüllt, sondern für Victor vor allem eines: einsam.


"Als ich die Ergebnisse der Notenkonferenz erfuhr, habe ich jedoch keinen Freudensprung gemacht. Schließlich bedeutete das nur, dass ich ein weiteres Jahr an diesem Lycée, an dem ich ein Niemand war, ignoriert werden würde." (S. 23)


Zu Beginn seines zweiten Jahres am Lycée lernt Victor in den Pausen Mathieu kennen, ein Außenseiter wie er selbst und eine Klasse unter ihm. Während sie gemeinsam rauchen, entdecken sie die Ähnlichkeiten ihrer Rollen, doch über einen anfänglichen Kontakt kommen sie nicht hinaus. Denn mit einem Schrei stürzt sich Mathieu bald darauf aus einem Fenster der Schule und kommt so zu Tode.

Dies ist der 'Knall', der alles scheinbar Festgefügte ins Rutschen und Victor gehörig aus dem Gleichgewicht bringt. Oft wacht er nachts auf, weil er den Schrei wieder hört, doch plötzlich ist Victor auch für seine Mitstudenten sichtbar. Als vermeintlicher Freund des Opfers ist er nun auch selbst ein Opfer und damit interessant für die anderen. Er wird angesprochen, eingeladen, wahrgenommen. Und beginnt dies bei aller Irritation allmählich auch zu genießen.


"Matheius Körper war nur ein Stein gewesen, den jemand in einen Teich geworfen hatte. Der Aufprall hatte zwar einige Ringe erzeugt, die sich für einige Sekunden ausbreiteten, doch danach war die Wasseroberfläche wieder glatt geworden. Vielleicht hatten sich ein oder zwei Badende an diesem neuen Hindernis, das im Boden steckte, in den Fuß geschnitten, doch die Wunde hatte sich rasch wieder geschlossen (...) Das hätte Mathieu eigentlich klar sien müssen. Ob er lebte oder tot war, machte keinerlei Unterschied. Dann lieber leben." (S. 158)


Viele Aspekte werden in diesem gerade einmal 190 Seiten starken Roman angesprochen und beleuchtet. So wird beispielsweise das Schulsystem nebenher kritisch hinterfragt, der Druck, der auf den Studenten lastet, die Allmacht der Lehrer, die ihre Neurosen oftmals ungestraft auf Kosten der Schüler ausleben können, das elitäre Denken... Und es werden die Macht und Undurchlässigkeit sozialer Unterschiede aufgezeigt, die einen nahezu entwurzeln lassen, wenn man neue Kenntnisse und Kompetenzen erwirbt, die einen vom eigenen Ursprung unwiderbringlich entfernen.

Doch es ist die persönliche Entwicklung Victors, die in diesem Roman zentral im Mittelpunkt steht, seine anfängliche emotionale Unterkühltheit, seine Unsicherheit bezüglich seines Lebensweges, seine große Distanz gegenüber seinen Eltern - alles beginnt sich aufzulösen und zu wandeln. So bieten Victor und der Vater von Mathieu einander nach dem Tod des jungen Mannes gegenseitig Halt, suchen dabei etwas beim anderen, das sie womöglich nicht finden werden.


"Und deshalb brauchten Sie ... ja, was eigentlich? Was kann man bei einem Vater finden, der kürzlich seinen Sohn verloren hat?" - "Ich weiß nicht ... einen Platz?" (S. 171)


Jean-Philippe Blondel gelingt es trotz der überschaubaren Seitenzahl viel Inhaltliches zu präsentieren und auszudrücken. Der Schreibstil ist dabei oft bewusst distanziert gewählt, entfaltet jedoch gleichzeitig eine unglaubliche Intensität, der sich der Leser nicht entziehen kann. Die Verwirrung, die Betäubung der Gefühle ist nahezu greifbar, die Orientierungslosigkeit, die Suche des jungen Mannes nach seinem Platz im Leben - erschüttert durch den Selbstmord eines eigentlich nur oberflächlich bekannten Mitschülers.

Bei derartigen Büchern beschäftigt mich immer der Gedanke, ob darin nicht auch ein autobiografischer Anteil des Autors mitschwingt. Und tatsächlich verrät Blondel in einem Interview mit dem Hanser Verlag:


"Im Oktober 1984 war ich zwanzig Jahre alt. Ich bereitete mich in einem großen Lycée in Paris auf das Studium vor. Einer der Studenten aus der Klasse gegenüber der unseren hat genau das gemacht, was Mathieu im Buch tut. Der Schrei blieb all die Jahre in mein Gedächtnis eingebrannt. Es passiert mir immer noch, dass ich nachts aufwache, weil ich ihn höre. Victor ist dem, der ich damals war, sehr ähnlich (auch wenn mein Leben viel komplizierter war). Er ist ein Doppelgänger, ein Bruder – ich habe ihn in mir leben/wiederaufleben gespürt, als ich den Roman geschrieben habe." (Quelle: 5 Fragen an Jean-Philippe Bondel)


Ein leiser Roman, sensibel und sprachgewaltig - beeindruckend!


© Parden


Sehr überzeugende Rezension - Respekt!
 
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