Rezension Rezension (5/5*) zu Alligatoren von Deb Spera.

Renie

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19. Mai 2014
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renies-lesetagebuch.blogspot.de
ein sehr atmosphärischer Südstaatenroman

"Einen Menschen töten ist leichter als einen Alligator töten, aber Geduld brauchst du für beides."

Gertrude Pardee eine der Protagonistinnen des Romanes "Alligatoren" von Deb Spera, hat sehr viel Geduld, genauso, wie sie viele Kinder und viele blaue Flecken hat - dank der speziellen Fürsorge ihres stets betrunkenen Mannes. Irgendwann wird sie feststellen, dass sie und ihre Kinder ohne Mann besser und leichter durchs Leben kommen.

"Es ist was Furchtbares, wenn die eigenen Kinder Angst vor der Welt haben, aber das müssen sie, wenn sie überleben wollen. Unsichtbare Dinge sind überall um uns rum, und es ist besser, wenn sie das jetzt schon lernen."

Der Roman spielt im Süden der USA, in den Jahren vor dem Börsencrash 1929, der eine Weltwirtschaftskrise zur Folge hatte. Der Süden der USA war bereits vor diesem Zeitpunkt von Armut und Hunger geplagt. Dies betraf viele Teile der Bevölkerung. Auf der einen Seite gab es die Plantagenbesitzer, denen es noch einigermaßen gut ging, auf der anderen Seite gab es einfache Menschen wie Gertrude Pardee und ihre Familie, die am Limit lebten und jeden Tag auf's Neue um ihr Überleben kämpfen mussten.

Hinzu kam die Diskriminierung der farbigen Bevölkerung. Auch wenn die Sklaverei bereits seit Jahrzehnten abgeschafft war, war sie doch noch in den Köpfen der Menschen verwurzelt. Es gab eine klare Rollenverteilung zwischen Schwarz und Weiß. Weiße waren Herrscher, Farbige waren Diener.
Zu diesen Gruppen gehören die beiden anderen Protagonistinnen dieses Romans:

Annie Cole
Ihre Familie gehört zu den wohlhabendsten in der Gegend. Ihr Mann Edwin und Sohn Eddie führen die Plantage der Familie. Annie selbst und der jüngste Sohn Lonnie betreiben eine Näherei. Plantage und Näherei liefern wertvolle Arbeitsplätze. Auch Gertrude wird hier eine Anstellung finden.

Oretta - genannt Retta - ist die gute Seele der Familie Cole, ist sie doch als Köchin angestellt und führt deren Haushalt. Retta arbeitet bereits ihr Leben lang für die Familie, gehört irgendwie dazu ... solange sie weiß, wo ihr Platz in der Rangordnung ist. Und als Farbige steht sie ganz am Ende.
"Die Zeiten ändern sich, aber die Menschen nie. Neger dürfen ruhig die ganze Arbeit machen, aber eine Meinung dürfen sie nicht haben."
Deb Spera erzählt die gemeinsame Geschichte dieser drei Frauen, die zwar völlig unterschiedlich sind, deren Schicksale sich jedoch nicht voneinander trennen lassen.

Die beiden weißen Frauen haben mit der Dominanz der Männer zu kämpfen. Gertrude ist ihrem trinkendem und brutalem Ehemann ausgeliefert und nimmt vieles auf sich, um ihre 4 Mädchen vor ihm zu schützen. Brutalität in der Ehe ist in dieser Zeit gesellschaftsfähig. Da Gertrude auf keinerlei Hilfe von Außen hoffen kann, nimmt sie ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand. Sie zieht mit ihren Kindern in ein Haus in Rettas Nachbarschaft. Vermieterin ist Annie Cole, die Gertrude auch als Näherin einstellt.

Annies Mann ist der ehrgeizige und erfolgshungrige Edwin, der sich gern als Machtmensch sieht und die Bewunderung anderer genießt. Die Landwirtschaft läuft leider nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Trotzdem tut er die erfolgreiche und boomende Näherei, die von seiner Frau und seinem jüngsten Sohn betrieben wird, als Hirngespinst ab. Insbesondere seinen Sohn lässt er seine Verachtung spüren und sieht in dem stotternden Lonnie einen Schwächling. Edwin ist also ein Familiendespot, wie er im Buche steht. Es gibt in dieser Familie noch zwei, mittlerweile erwachsene Töchter. Die Beiden haben ihr Elternhaus bereits früh verlassen, da sie sich mit den Eltern überworfen haben. Sie meiden den Kontakt zu ihnen.

Dank einer Verfügung von Annies mittlerweile verstorbenem Vater, hat sie die alleinige Verantwortung für die Näherei, was ihrem Mann natürlich ein Dorn im Auge ist, neidet er ihr doch den Erfolg bei ihrer Arbeit.

Retta kennt die Coles-Kinder von klein auf und hat auch das konfliktbehaftete Familienleben begleitet. Sie lebt mit ihrem Mann Odell in einer harmonischen Ehe. Die beiden sind Seelenverwandte, die auch den frühen Tod der Tochter gemeinsam bewältigt haben.

Jede der drei Frauen für sich ist eine starke Persönlichkeit, auch wenn ihnen durch die Männer Grenzen aufgezeigt werden.

Aus der ehemaligen Zweckbeziehung (Annie als Arbeitgeberin von Retta und Gertrude; Retta als Unterstützung für Gertrude und ihre Mädchen) wächst mit der Zeit ein intensiveres Verhältnis zwischen den Frauen, das von einem Geheimnis um Annies Mann überschattet wird. Als Leser ahnt man, was Edwin zu verbergen hat. Was es mit Edwin auf sich hat, wird immer deutlicher, je tiefer man in die Handlung dieses Romans eintaucht. Und zum Ende kommt es zum klassischen Showdown zwischen Mann und Frau.

"Für irgendwen in dieser Stadt braut sich was zusammen. Noch ist nichts passiert, aber es wird was passieren."

"Alligatoren" ist ein atmosphärischer Südstaatenroman, wie man ihn sich vorstellt: Hitze, Fliegen, Sümpfe, Baumwolle, Mystik und Aberglauben. Hier findet sich alles, was das Südstaatenherz begehrt. Hinzu kommt eine unterschwellige Spannung, die diesen Roman durchzieht. Und im Mittelpunkt stehen 3 starke Frauen unterschiedlicher Herkunft, denen es gelingt, trotz der Dominanz der Männer ihren eigenen Weg zu gehen. Ein großartiger Roman!

© Renie