Rezension Rezension (5/5*) zu Patria von Fernando Aramburu.

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
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Essen
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Eine Heimat zum Davonlaufen

Fernando Aramburu ist im Baskenland aufgewachsen, lebt heute in Hannover und hat mit dem Roman „Patria“ seiner Heimatregion ein starkes literarisches Denkmal gesetzt. Er macht darin erfahrbar, wie sich das politische Aufgeladensein im Streben nach Unabhängigkeit in sehr unterschiedlicher, aber immer gnadenloser Weise auf den Einzelnen auswirkt.
Das Geschehen setzt ein ein paar Jahre nach dem Attentatstod eines baskischen Kleinunternehmers, Txato, in dessen Dorf unweit von San Sebastian. Er ist vor seiner Haustür den Schüssen der ETA erlegen, abgefeuert vermutlich vom Sohn der am besten befreundeten Familie, die ebenfalls aus diesem Dorf stammt. Die Frau des Attentatsopers, Bittori, war früher genauso die beste Freundin der Mutter des Täters, Miren, wie Opfer und Vater des Täters die besten Freunde waren. Und auch für die Generation der Kinder sind die Freundschaften mit den Kindern der jeweils anderen Familie wichtiger Bestandteil der Kindheit und Jugend. Doch all diese Freundschaften und Beziehungen finden (zunächst) ein absolutes Ende als Txato ins Visier der ETA gerät, da er sich weigert, Schutzgelder zur Finanzierung der Terrororganisation in der geforderten Höhe zu zahlen. Zum Zeitpunkt des Einsetzens der Geschichte taucht nach vielen Jahren der Abwesenheit die Witwe Bittori wieder heimlich, still und leise im Dorf auf. Große Unruhe macht sich daraufhin breit. Die dörfliche Ruhe ist durch ihr Auftauchen nachhaltig gestört. In kurzen, abgeschlossenen Kapiteln, die jeweils die Sichtweise verschiedener Mitglieder beider Familien in den Blick nehmen, macht Aramburu die Spannung, die in der dörflichen Gesellschaft herrscht, förmlich greifbar. In der folgenden Schilderung der Entwicklungen bis hin zum Attentat und in den Jahrzehnten von Haft und Aufarbeitung danach wird dann sehr klar, wie stark die baskische Frage und die individuelle Haltung dazu das Leben jedes Einzelnen von Beginn bis zum Ende hin prägt. Und ob der eine zum Opfer wird, weil er die entsprechenden finanziellen Mittel hat, um als Finanzier erpresst zu werden, oder ob der andere sich entschließt, selbst in den Untergrund zu gehen und aktiv für die Unabhängigkeit zu kämpfen (und zu töten), hängt im Grunde von kleinsten Unterschieden in den individuellen Lebensgeschichten ab. Unentrinnbar ist aber die Notwendigkeit jedes Einzelnen, eine eigene klare Haltung zu dem Geschehen einzunehmen. Denn eine neutrale, indifferente Haltung führt zur totalen Ausgrenzung in einer engen dörflichen Gemeinschaft, in der das Miteinander den Alltag grundlegend prägt. Witwe, Sohn und Tochter des Attentatsopfers sind in ihrer Lebensgestaltung mitgefangen durch das, was dem Vater passiert ist.
„Sie alle drei waren zu Satelliten eines ermordeten Mannes geworden. Ob sie wollten oder nicht, kreisten ihre Leben jahrelang um jenes Verbrechen, jenen unaufhörlichen Brennpunkt von. Von was?“
So können sie nicht mehr in dem Dorf leben, in dem ihr Haus steht und ihre Vergangenheit und gesellschaftliche Sozialisation liegt. All das ist über den Haufen geworfen durch die Rolle, die sie bzw. der Vater in der baskischen Unabhängigkeitsfrage gespielt hat.
In ähnlicher Weise ist aber auch das Leben der Familie des Täters auf Immer und Ewig durch das Attentat des Bruders in Bahnen gelenkt, die sie ansonsten nicht einzunehmen gewillt wäre, denn
„Es geht nicht um gute oder schlechte Menschen. Das Leben eines Volkes steht auf dem Spiel. Sind wir ‚abertzales‘ (Patrioten), oder was sind wir? Und vergiss nicht, dass du einen Sohn bei den Kämpfern hast.“
Und so sitzen die handelnden Personen in „dem Automatismus eines blindwütigen Handelns“ fest. Dem entfliehen kann man nur, wenn man sich weit, weit entfernt vom Geschehen, und sich zu Orten aufmacht, in denen dieser Automatismus nicht mehr zu greifen vermag. Annähernd gelingt das im Roman lediglich dem kleinen Bruder Gorka aus der Täterfamilie, der schon in der Kindheit ein stiller Sonderling mit dem Hang zu Literatur und Fantasieträumerien war. Er schreibt Gedichte und wird später Journalist, ein Buch in der Heimat zu schreiben erscheint ihm aber nur möglich, wenn die Handlung in weite Fernen verpflanzt ist und auf keinen Fall einen baskischen Bezug erkennbar werden lässt. Anders ist es nur möglich, wenn man ihn aus großer örtlicher Distanz schreibt. Im Dorf zu bleiben aber bedeutet, sein Schicksal unweigerlich mit der ETA zu verbinden:
„Entweder verlasse ich das Dorf, oder ich gehe denselben Weg wie Joxe Mari (der Täter, sein Bruder). Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Sie setzen mich unter Druck. Sie halten mich für schwach… Am schlimmsten aber ist, dass sie sich immer mehr durchsetzen und mich zwingen, Dinge zu tun, mit denen ich nicht einverstanden bin. Ich habe keinen einzigen Freund mehr, mit dem ich so reden kann wie mit euch. Ich bringe kaum noch ein Wort über die Lippen aus Angst, was Falsches zu sagen.“
In dieser Figur des Gorka steckt in meiner Interpretation ein gewichtiger Kern Autobiografisches des Autors, der von Hannover aus mit „Patria“ einen Roman mit unglaublich viel Insiderwissen über die baskische Gefühls- und Gemengelage geschrieben hat.
Patria nimmt den Leser mit auf eine Entdeckungsreise in die Wirkungsstätten von Fanatismus und Terrorismus. Mir werden die Personen des Romans in ihrem Ringen um einen Platz und eine Position in diesen Wirkungsstätten noch lange im Kopf herumgehen. Ohne dass der Roman ein einfaches Urteil über Fanatismus und Terrorismus abgibt, gibt er so ein starkes Plädoyer für die Selbstbestimmtheit des Menschen und für die Freiheit im Geiste und Handeln ab und hat eine große Schar von Lesern verdient.
Die Sprache und die Struktur des Romans tun ihr eigenes, um die Geschichte so fesselnd und aussagekräftig zu machen, wie sie bei mir angekommen ist. Der Reichtum des Personals unterstreicht dies noch weiter. Ich wünsche jedem die Zeit und die Muße, diesen über 700 Seiten umfassenden Roman lesen zu können. Und gebe natürlich 5 Sterne.


 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
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Du hast wirklich das Talent, andere mit deinen aussagekräftigen Rezensionen zu begeistern.

Ich hatte das Buch aus meinem Radar genommen, weil ich glaubte, es sei zu politisch. Augenscheinlich ist das Politische aber eng mit dem Menschlichen und Familiären verknüpft, was mein Interesse erneut weckt...

Leider gibt es bei Audible nur die gekürzte Fassung, was mich immer extrem ärgert. Mal schauen, wann und ob ich mir diese dicke Buch zu Gemüte führe. Deine Rezension macht auf alle Fälle Appetit ;)
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Auch ich habe dieses Buch geliebt. Dieses wunderbare Darstellen aller Mitglieder beider Familien hat diese Personen fast greifbar für mich gemacht. In diesen Charakterzeichnungen hat Fernando Aramburu eine absolute Stärke und ich hab mich einigen Personen in dem Buch sehr nah gefühlt. Dieses Buch war für mich eines dieser wenigen, wo man sehr traurig ist, dass es zu Ende ist. Besonders berührt haben mich die Charaktere Arantxa und Gorka. Ich krieg jetzt noch Gänsehaut.