Rezension Rezension (5/5*) zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee
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Ein großartiges, feinsinniges Familienepos

Titel und Einband des Romans sind zwar wie üblich bei dtv hochwertig gestaltet, Cover und Titel erscheinen aber unspektakulär, nichts, was ins Auge fällt. Der amerikanische Originaltitel lautet „Pachinko“ und ich fragte mich sofort, warum man es nicht bei diesem viel geheimnisvolleren Titel belassen hat. Der Klappentext suggeriert, dass zwei ungleiche Brüder ihr Schicksal herausfordern und miteinander konkurrieren. Das ist jedoch weit gefehlt! Der Roman bietet so viel mehr, soviel tiefere Einsichten über Familie, Herkunft, Migration, Zugehörigkeit und nicht zuletzt Geschichte. Ein großes Stück Literatur!

Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Er beginnt 1889 im Dorf Gohyang in Korea. Schnell wird deutlich, dass Ehen innerhalb derselben Schicht geschlossen werden. Der arbeitsame, aber klumpfüßige, Hoonie rechnet sie aufgrund seines Handicaps keine Chancen diesbezüglich aus und ist überrascht, als er doch die verarmte Bauerntochter Yangjin zur Frau bekommt. Beide übernehmen das Logierhaus seiner Eltern und führen ein zufriedenes Leben. Sie bekommen einige Kinder, überleben tut aber nur ein Mädchen: Sunja, deren Leben uns im kompletten Roman begleitet.
Als Sunja 15 Jahre alt ist, rettet sie der wohlhabende und doppelt so alte Hansu aus einer misslichen Lage und wird ihr Freund. Die beiden treffen sich regelmäßig. Hansu übertritt schließlich jedoch die platonische Vertrautheit und es kommt wiederholt zu sexuellen Handlungen. Ob Hansu wirklich verliebt in das junge Mädchen ist oder nur ihre Unerfahrenheit eigennützig ausnutzt, wird nicht klar. Als Sunja schwanger wird, verspricht er ihr aber, für sie zu sorgen. Heiraten kann er sie nicht, da er bereits drei Töchter und eine Ehefrau in Osaka hat. Sunja ist tief enttäuscht und bricht mit ihm.

Isak, ein junger christlicher Geistlicher, verhindert ihre gesellschaftliche Ächtung, indem er sie heiratet und damit dem ungeborenen Kind seinen Namen gibt. Das Paar macht sich auf nach Osaka, wo Isak eine Stelle angeboten wurde. Sie leben fortan bei Isaks älterem, kinderlosen Bruder und dessen Ehefrau in bescheidenen Verhältnissen. Sunja bekommt zwei Söhne: Noa, einen pflichtbewussten, ehrgeizigen, und Mozasu, einem ebenfalls fleißigen Jungen, der mit Schulbildung jedoch wenig anfangen kann. Beide Kinder sind liebenswert und die Familie hält fest zusammen.

Koreaner haben es schwer in Japan. Sie werden diskriminiert und nur wenige Berufe stehen ihnen offen. Einer dieser wenigen ist die bei Japanern verrufene Pachinko (Glücksspiel)-Branche, in der Mozasu als Erwachsener zu ordentlichem Erfolg kommen wird. Noas Herzenswunsch ist es indessen, englische Literatur zu studieren – ein Wunsch, der den Geldbeutel der Familie überfordert, zumal Isak zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben ist. In ihrer Not wendet sich Sunja an Noas leiblichen Vater Hansu, der sich gerne bereit erklärt, Unterstützung zu leisten. Diese Entscheidung wird im weiteren Verlauf der Geschichte schicksalhafte Folgen haben….

Zum Ende des Romans hin wird Solomon, Mozasus Sohn, in der dritten Einwanderer-Generation für ein selbstbestimmtes Leben in Japan eintreten und seine Erfahrungen machen. Pachinko ist das wiederkehrende Thema, das die Handlung flankiert. Insofern wäre dieser Titel aus meiner Sicht der deutlich bessere für den Roman gewesen. Der Bogen spannt sich bis ins Jahr 1989 und wird zu einem glaubwürdigen Ende geführt, das Platz für viele eigene Gedanken und anregende Diskussionen lässt.

Der Roman ist einzigartig gut geschrieben. Er liest sich flüssig und leicht verständlich, hat aber mitunter eine solch starke Ausdruckskraft, die einem den Atem rauben kann. Es passiert unheimlich viel: Das Buch zeigt sowohl den bewegten Lauf der koreanisch-japanischen Geschichte als auch die Höhen und Tiefen der beteiligten Familien. Ergänzt wird das Panorama durch zahlreiche Episoden, die sich rund um Nebenfiguren ranken. Man bekommt dadurch einen glaubwürdigen Überblick über gesellschaftliche Zwänge und Zusammenhänge in einer für viele von uns unbekannten Welt.

Zentrales Thema ist die Identitätssuche in einer neuen Heimat, zentral sind dabei auch Vorurteile und Klischees den Eingewanderten gegenüber. Das ist eine Problematik, die große Aktualität in zahlreichen Ländern der Welt (auch in Deutschland) hat. Min Jin Lee erzählt jedoch nicht mit erhobenen Zeigefinger, sie bleibt realitätsnah, hält Distanz zu ihren Figuren und zeigt auf die Graubereiche – es gibt im Leben nicht nur die gute und die schlechte Seite, sondern eben ganz viel dazwischen.
Die Autorin vermittelt viel Emotion, drückt aber niemals auf die Tränendrüse. Auch fundamentale Schicksalsschläge berichtet sie sachlich und geht dabei nicht in schmerzhafte Details. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, sich sein eigenes Bild von den Folgen des Geschilderten zu machen.

Für mich ist dieses Buch eines meiner Jahres-Highlights. Min Jin Lee hat einen wirklich großartigen, zeitlosen Roman geschrieben, der am Beispiel einer Familie grundlegende Problematiken aufzeigt. Er hat Tiefe und Spannung, eine Mischung, die ich sehr attraktiv finde. Fünf Sterne mit Zusatzplus - Unbedingt lesen!


 

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