Rezension Rezension (5/5*) zu Am Seil von Erich Hackl.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Am Seil von Erich Hackl
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Ein Appell an die (Mit-)Menschlichkeit


Der kleine Roman fußt auf einer wahren Geschichte. Bereits aus dem Klappentext ist ersichtlich, dass es die Erzählung nicht gäbe, wenn Lucia Heilman sich nicht vorgenommen hätte, den passionierten Bergsteiger Reinhold Duschka (1900-1993) zu würdigen, der sie und ihre Mutter vor der Deportation in ein Nazi-Vernichtungslager bewahrte. Es handelt sich also um die Erinnerungen Lucias (geb.1929), die der Autor in diesem Buch verarbeitet hat. Das zu wissen, erleichtert meines Erachtens den Einstieg, denn das Besondere ist die Art des Erzählens, eng verknüpft mit der Erzählperspektive: Der Autor berichtet in absolut sachlichem Ton die Dinge, die in der Vergangenheit, in der Zeit vor, während und nach dem 2. Weltkrieg, geschehen sind. Er stützt sich dabei auf die Erinnerungen Lucias, die bei Kriegsausbruch noch ein Kind war. Das hat naturgemäß zur Folge, dass Gefühle und Wahrnehmung mitunter die eines Kindes sind. Der Autor versteht es jedoch, den Text trotzdem (oder gerade deswegen?) eindringlich und ernsthaft zu gestalten. Er formuliert wunderbare Sätze, die das Grauen der Zeit fühlbar machen. Selten hat mich eine im Grunde nüchterne Beschreibung ähnlich berührt. Dabei wird auch mit Erinnerungslücken ehrlich umgegangen. Zuweilen spekuliert der Autor auch, wie etwas gewesen sein könnte, weil es sich dem Kind damals einfach nicht erschlossen hat. Diese Ehrlichkeit macht den Roman umso authentischer.

Das Thema selbst ist sehr ernst: Lucia und ihre Mutter Regina sind Wiener Juden. Wie viele Betroffene wollen sie lange die durch die Nazis drohende Gefahr nicht wahr haben. Als jedoch immer mehr Judenhäuser geräumt und ihre Bewohner auf Lastwagen weggeschafft werden, „wohin, dorthin, von wo niemand zurückkommt.“ (S. 25), wird der Druck größer. Regina sucht nach einem Versteck. Schließlich bietet ihr Reinhold Duschka, ein passionierter Bergsteiger, der zum selben Alpenverein gehört wie Regina und ihr Freund Rudolf, sie und Lucia, in seiner Handwerkswerkstatt zu verstecken. Sie willigt ein. Die nächsten vier Jahre von 1941-1945 werden sie an Reinholds Arbeitsplatz, diesem „prekären Zuhause“, in einem kleinen Bretterverschlag verborgen verbringen. Natürlich leben sie in ständiger Angst - nicht nur davor, verraten zu werden. Ebenso wesentlich ist es, dass Reinhold als Versorger gesund bleiben muss und nicht zum Wehrdienst eingezogen werden darf.

Die Tage werden dem Mädchen zur Qual. Sie sehnt sich nach der Schule, nach anderen Kindern, sie möchte sich bewegen. Reinhold, der ein sehr wortkarger Mensch ist, nimmt sich des Kindes und seiner Bedürfnisse auf liebevolle Weise an: Er gibt ihr Beschäftigung in seinem Betrieb, indem er ihr kunsthandwerkliche Tätigkeiten beibringt, er unternimmt kleine Ausflüge mit ihr und besorgt ihr Bücher aus der Leihbücherei. Dies alles tut er mit großer Geduld und Selbstverständlichkeit. Lucia wird ihm das ihr Leben lang hoch anrechnen.

Im Laufe der Jahre gewinnt das Kriegstreiben an Schärfe. Bomben fallen, trotz Gefahr suchen Regina und Lucia Schutz im Keller des Hauses: „Außerdem konnte ihnen allein schon der Argwohn gefährlich werden, den eine fremde Frau mit Kind erregte; je bedrohlicher sich für die schutzsuchenden Volksgenossen der Kriegsverlauf darstellte, um so schneller witterten sie untergetauchte Juden, und umso größer wurde ihr Verlangen, diese zur Strecke zu bringen.“ (S. 62)

Lucia, Regina und Reinhold überleben den Krieg. Schnell gehen sie wieder getrennte Wege. Doch auch die sich daran anschließende schwierige Zeit wird nicht ausgespart. Der Leser erfährt, wie die Leben der Protagonisten weiter gehen.

Reinhold Duschka erreicht ein hohes Alter. Ehrungen für seine Tat, die er als völlig selbstverständlich ansah, lehnte er stets ab. Erst als er 90 Jahre alt ist, gelingt es Lucia in Zusammenarbeit mit Duschkas Tochter, dass ihm der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ (eine jüdische Ehrung für Nichtjuden) verliehen wird. Das Besondere an Reinhold ist, dass er ein ganz normaler Mensch ohne Heldenpathos war, jemand der einfach die Möglichkeit hatte, Zivilcourage zu zeigen und dabei das eigene Risiko bewusst einging. Ein enger Freund formulierte folgenden Nachruf: „Es war für Dich selbstverständlich und gar nicht erwähnenswert, dass du in einer Zeit der Unmenschlichkeit Deinen Anspruch als Mensch gelebt hast. …“ (S. 101)

Dieses kleine Buch appelliert an jeden von uns, auch in schwierigen Situationen diesen Anspruch als Mensch zu leben. Deshalb ist „Am Seil“ ein wichtiges Buch, das eben nicht nur an eine verachtenswerte Zeit erinnert, sondern auch aufzeigt, dass ganz normale Menschen Großes vollbringen können – wenn sie nur die Augen aufhalten.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen. Neben dem Inhalt hat mich der besondere Ausdruck und Sprachstil des Autors fasziniert, der Lust macht, weitere Werke von ihm zu entdecken. Ich vergebe gerne die volle Punktzahl!



 
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