Ich wollte Liebe und lernte hassen! (Ein Lebensbericht)

Renie

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Ich gehöre zu den Menschen, die sich schwer dabei tun, Verbrechen mit der "Täter = Opfer"-Theorie zu "entschuldigen". Will heißen: Eine schreckliche Kindheit ist für mich kein Grund, einem Straftäter Absolution zu erteilen.
Daher wundere ich mich gerade ein wenig über mich selbst, da es in dem Buch "Ich wollte Liebe und lernte hassen!" genau darum geht - also nicht um die Absolution sondern um die Lebensgeschichte eines jungen Mörders. Was hat einen 20-Jährigen dazu gebracht, zwei Menschen zu töten?
Das vorliegende Buch von Fritz Mertens ist entstanden, als dieser nach dem Mord an zwei Menschen, im Zuge der Gerichtsverhandlung, seinen Lebenslauf niederschreiben sollte. Er nahm dies kurz darauf zum Anlass, sich die Geschichte seiner Kindheit von der Seele zu schreiben. Diese Geschichte hat er dem sachverständigen Jugendpsychologen der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt. Trotzdem der Psychologe von der Anklage war, hat Mertens in ihm jemanden gesehen, dem er sich anvertrauen konnte.
Die ersten Seiten haben mir bewiesen, dass ich dieses Buch nicht einfach herunterlesen kann. Der Verlag hat lediglich kleine Korrekturen (hauptsächlich in der Rechtschreibung) vorgenommen. Dadurch gibt es keinen Filter zwischen dem Leser und dem Erzähler. Das Grauen und die Ängste eines Kindes treffen mich mit voller Wucht. Daher ist dieser Thread mein Ventil, um das Gelesene zu verarbeiten.

Fritz Mertens ist übrigens das Pseudonym eines deutschen Autors. Mal sehen, ob ich herausfinde, wer dahintersteckt.

Bleibt noch die Antwort auf die Frage, warum ich dieses Buch lese. :rolleyes:
 

Literaturhexle

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Dadurch gibt es keinen Filter zwischen dem Leser und dem Erzähler. Das Grauen und die Ängste eines Kindes treffen mich mit voller Wucht.
Das ist aber wirklich harter Tobak. Selbstverständlich ist eine harte Kindheit kein Freibrief für eigene kriminelle Handlungen. Nichts desto trotz muss man zugeben, dass eine brutale, lieblose Familie zu seelischen Störungen und falscher Wahrnehmung führen kann, was wiederum ein gestörtes Verhältnis zu Gewalt zur Folge hat.
Das nützt den Opfern natürlich gar nichts.

Mit Sicherheit ist dieses Buch besonders und außergewöhnlich. Vielleicht hättest du es in Gesellschaft lesen sollen. Es schreit förmlich nach einem Austausch.
Es erinnert mich durch seine Auseinandersetzung mit einem extremen Schicksal an die "Einsamen Schwestern".
Du scheinst solche Bücher zu mögen -auch wenn sie dich emotional fordern.
 
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Renie

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Du scheinst solche Bücher zu mögen -auch wenn sie dich emotional fordern.
Teil, teils. In erster Linie ist es das Außergewöhnliche, das mich an einem Buch reizt. Da nehme ich auch schon mal eine emotionale Achterbahnfahrt in Kauf. Bei den Schwestern war es das Thema "Siamesische Zwillinge". Bei meinem Griff zu Fritz Mertens' Buch waren es die Umstände seines Entstehens.
 

Renie

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Das Buch macht sprachlos. Das, was Fritz und seine Geschwister erleiden müssen, ist unvorstellbar. Eigentlich sollte man meinen, dass man als Leser bei dieser geballten Form der Gewalt abstumpft. Aber dem ist nicht so.
Fritz hat noch 3 jüngere Geschwister. Er, als der Älteste, ist verantwortlich für die anderen und muss für sie den Kopf hinhalten.
Als Fritz noch klein ist, hat er zunächst monatelang mit einer Krankheit seines Gehapparates zu kämpfen: sein linkes Bein wird komplett bis zur Hüfte eingegipst. Wochenlang muss er diesen Gips tragen und kann sich kaum bewegen. Irgendwann kommt der Rollstuhl, anschließend eine Schiene, die das Bein bewegungslos hält. Die Krankenhausaufenthalte, die mit seiner Krankheit verbunden sind, tun ihm gut. Denn hier ist er nicht den rabiaten Erziehungsmethoden seiner Eltern ausgeliefert. Aber irgendwann ist er geheilt, und das Drama nimmt seinen Lauf. Er wird gehalten wie ein Sklave: Prügelstrafen, Isolation, Verachtung, Kinderarbeit mit einem 20Stunden-Tag. Die Knechterei zuhause wirkt sich auf seine schulischen Leistungen aus, wofür er von den Eltern wieder bestraft wird. Die körperlichen Schmerzen und die Müdigkeit, unter denen er leidet, versucht er mit Tabletten und Aufputschmitteln in den Griff zu bekommen. Er ist gerade mal 14 Jahre alt.
Was ich mich immer gefragt habe: Wie kann es sein, dass ein Kind, fast täglich grün und blau geschlagen in die Schule geht, und die Lehrer gehen darüber hinweg? Wie kann es sein, dass in einem Mehrfamilienhaus ein Kind jede Nacht vor Schmerzen schreit und keiner der Nachbarn reagiert? Wie kann es sein, dass die Gäste des Lokals, indem der Junge von morgens bis abends arbeitet, darüber weggehen und sich das Bierchen schmecken lassen, wenn Fritz in ihrem Beisein von der Mutter blutig geschlagen wird?

Fritz Mertens hat seine Kindheit in den 70ern und 80ern verbracht. Zu diesem Zeitpunkt war das "Züchtigungsrecht" von Eltern an ihren Kindern noch nicht abgeschafft (das passierte erst im Jahr 2000). Ich frage mich, ob der Gesetzgeber die Grausamkeiten, die an Fritz ausgeübt worden sind, damals noch als "Züchtigung" bezeichnet hätte. Ich will es nicht glauben.