Rezension Rezension (4/5*) zu Einsame Schwestern von Ekaterine Togonidze.

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
Buchinformationen und Rezensionen zu Einsame Schwestern von Ekaterine Togonidze
Kaufen >
Zwei Seelen, die sich Raum, Körper, Leben teilen

Ekaterina Togonidze stellt den Leser mit diesem Roman vor eine ganz besondere Herausforderung, nämlich sich in ein Personal hineinzudenken, das ein einfach undenkbares Schicksal hat und Leben führt. Es handelt sich um ein siamesisches Zwillingspaar, das zwei Frauen – Lina und Diane – mit sehr unterschiedlichen Gefühlswelten auf den unvorstellbar engen Lebensraum eines einzigen Körpers zusammenbindet. Dass es für dieses literarische Wesen ein reales Modell gibt, war für mich sehr unvorstellbar. Aber in einer Leserunde bei Whatchareadin hatten wir die Möglichkeit, uns auch mit der Autorin auszutauschen, die uns auf die Spur der amerikanischen Hensel-Zwillinge führte. Bewegte Bilder über dieses Zwillingspaar, das sich einen Körper teilt und in den auseinanderstrebenden Köpfen ein jeweils eigenes Leben führt oder zumindest denkt, machten für mich das Lesen und das Verständnis des Romans wesentlich einfacher. Ehrlich gesagt: Ich fürchte ich wäre ansonsten daran gescheitert, mir zu dem Roman irgendwie fassbare Bilder im Kopf zu machen und wäre deshalb an der Lektüre irgendwie auch gescheitert.
Aber ich konnte mir ja (mit dieser Hilfestellung) solche Bilder machen und habe den Roman so als großes Lese-Abenteuer und ungemein mutiges Schreib-Abenteuer der Autorin lesen können.
Die Zwillinge werden in Georgien unehelich geboren und werden von ihrer Mutter und vor allem der Großmutter aufgezogen. Die Mutter zerbricht wohl an diesem Schicksal und scheidet aus dem Leben. Die Großmutter zieht die beiden in absoluter Abgeschlossenheit von der Umwelt auf. Sie verlassen nie die Wohnung. Ein einziger Vertrauter der Großmutter stellt den Kontakt zur Außenwelt für sie her und organisiert das Überleben durch Einkäufe und Besorgungen für sie. Der Fernseher ist ihre Quelle der Kenntnis über die Welt. Die Großmutter vermittelt ihnen (wohl nicht ganz zu Unrecht), dass ein Kontakt mit der Außenwelt für sie beide eine große Gefahr darstellen würde. So bleiben sie wohl oder übel in dieser Abgeschiedenheit, bis die Großmutter immer kränker und gebrechlicher wird und ihr bevorstehender Tod das fragile Gleichgewicht ihres Lebens in Frage zu stellen droht. Als die Großmutter stirbt, versuchen die beiden, dies auszublenden, verscharren die Leiche im Garten und hoffen, dass irgendwie das Leben für sie so weitergeht.
An dieser Stelle ein Hinweis auf die Erzählweise des Romans. Die meisten Teile des Romans bilden Tagebucheinträge der beiden Schwestern, die unabhängig voneinander ihre Gefühle schriftlich festhalten, was mir bei der intensiven körperlichen Nähe der beiden eine schwierige Vorstellung bleibt.
Nach dem Tod der Großmutter scheint die schwierige Entscheidung bevorzustehen, ob sie sich in die Öffentlichkeit begeben werden oder nicht. Doch diese Entscheidung wird ihnen durch eine Naturkatastrophe aus den Händen genommen: eine Überschwemmung flutet die Wohnung und reißt die beiden mit sich in die Welt hinaus.
Ihre erste Lebensstation außerhalb der familiären Wohnung ist dann ein Krankenhaus, in dem sie sich von den Folgen der Überschwemmung erholen und gesunden müssen. Das Krankenhauspersonal reagiert darüber hinaus relativ gelassen und neutral auf die besondere Erscheinung dieses Patientenpaares. Und doch fühlt der Leser sehr deutlich, dass sich im Hintergrund ihr Schicksal in eine Richtung entwickelt, die keine gute sein wird.
Tatsächlich nimmt sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ein Zirkus auf, der sich auch noch im 21. Jahrhundert sein Publikum durch das Zurschaustellen von „menschlichen Monstrositäten“ zu sichern sucht. Hier lernen sie, sich zur Schau zu stellen und dem Publikum dabei etwas zu bieten und hier machen sie auch die ersten Erfahrungen mit neuen Bekannten und anderen Menschen, was auch sehr bald Liebe bzw. Verliebtsein mit ins Spiel bringt. Gefühle explodieren, die aber immer nur durch eine der zwei Seelen in dem gemeinsamen Körper auch gefühlt werden. Unterschiedliche Gefühlswelten und Unverständnis gegenüber den Gefühlswelten der jeweils anderen findet hier auf dem engen Raum der Körpergemeinschaft genauso statt wie bei allen anderen Beziehungen zwischen zwei Menschen. Das jedenfalls spiegeln uns die Tagebucheinträge der Schwestern, die die Autorin für ihren Roman konzipiert hat.
Das Ende des Romans und auch des Lebens der Schwestern wird schließlich herbeigeführt durch einen Gewaltakt im Zirkus.
FAZIT:
Ich bewundere diesen Roman, den ich als wirklich mutiges Experiment verstehe. Die Autorin führt uns in eine einzigartige Sonderform menschlichen Personals hinein und versucht, uns diesem Personal nahe zu bringen und mit ihm fühlen zu lassen. Ich muss aber auch sagen, dass ich bei der Lektüre und auch danach, als ich dem Nachklingen der Lektüre bei mir nachgespürt habe, oft die Befürchtung hatte, dass Ekaterine Togonidze sich dabei etwas verhoben hat. Ist das nicht ein zu Viel des Guten? Kann man dieses psychologisch-literarische Experiment wirklich schaffen? Wie schon zu Anfang gesagt: Ohne die realen Bilder hätte es bei mir vermutlich nicht funktioniert. Aber vielleicht sind andere Leser einfühlsamer und kreativer in ihrer Vorstellungswelt? Also ist es doch ein gutes Experiment, den Leser so stark zu fordern? Ich kann mir diese Frage auch nach einigen Tagen immer noch nicht richtig beantworten.
Und so bleibe ich mit meinen Zweifeln zurück und wünsche dem Roman einfach möglichst viele Leser, die dieses Experiment mitmachen und sich darauf einlassen. Deshalb gebe ich dem Buch eine Empfehlung mit 4 Sternen.


von: John Jay Osborn
von: Judith Hermann
von: Katharina Hagena