Zweiter Teil, I bis III

Leseglück

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Seit Meursault im Gefängnis ist, wirkt er auf mich sympathischer. Vorher hatte er auf mich weder sympathisch noch unsympathisch gewirkt (ganz im Sinne von Camus ;)
Der Anwalt fragt ihn ob er am Tag der Beerdigung der Mutter Kummer gefühlt habe. Meursault antwortet sinngemäß, dass alle vernünftigen Menschen mehr oder weniger den Tod derer gewünscht hätten, die sie lieben.
Über den Satz bin ich gestolpert. Stimmt das? Sicher für eine todkranke oder sehr alte Mutter, die sich nur noch quält...aber sonst? Nein.

Der Untersuchungsrichter will von M. wissen ob er Reue empfinde. Das sei eine Voraussetzung für die Vergebung Gottes. M. antwortet, dass er eher "Verdruß" als Reue empfinde und dass er nicht an Gott glaube.
Das erinnert mich an den Klappentext, in dem es heißt, M. weigert sich zu lügen. Er ist radikal ehrlich.

Die Geschichte mit dem Tschechoslowaken fand ich auch unwahrscheinlich wie M. M. meint, dass der Reisende seinen Tod ein bisschen verdient habe, dass man nie spielen sollte.
Hier zeigt sich, dass er die Konsequenzen seines eigenen Handelns - also seien eigenen Tod - akzeptiert.

Zuletzt gibt M. zu, dass er Selbstgespräche führt. Am Ende des zweiten Abschnitts im zweiten Teil heißt es:
Dabei habe ich mich an das erinnert, was die Krankenschwester bei Mamas Beerdigung sagte. Nein, es gab keinen Ausweg und niemand kann sich vorstellen, was die Abende im Gefängnis sind.
Ich musste erst mal zurückblättern um nachzulesen, was die Krankenschwester bei der Beerdigung gesagt hatte.
Sie sagte (bezogen auf den Gang in der sengenden Hitze): "Wenn man langsam geht riskiert man einen Sonnenstich. Aber wenn man zu schnell geht, ist man verschwitzt und holt sich in der Kirche eine Erkältung. Sie hatte Recht. Es war ausweglos.

Meursault steht seiner Zukunft relativ gelassen gegenüber, vielleicht kann man sogar sagen, dass er sein Schicksal radikal akzeptiert.
 

parden

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Meursault ist auch für mich greifbarer, seit er im Gefängnis ist. Trotz seiner oft so gleichgültig wirkenden Art kann sich auch der Angeklagte nicht frei von Gefühlen machen...

[zitat]...und der Staatsanwalt hat so schallend und mit einem so triumphierenden Blick in meine Richtung 'oh, nein, das genügt' gerufen, dass ich zum ersten Mal seit vielen Jahren das unsinnige Bedürfnis zu weinen hatte, weil ich gespürt habe, wie sehr ich von all diesen Leuten verabscheut wurde. (S. 117)[/zitat]

Ich empfinde die Situation Meursaults trotz der immer noch distanzierten Schreibweise als zunehmend bedrückend - bei manchen Szenen schnürt sich mir tatsächlich die Kehle zu. Das hatte ich nach dem Anfang nicht erwartet. Deutlich auch in dem letzten Satz dieses Abschnittes, dass das Leben unberechenbar und willkürlich ist:

[zitat]Und doch war etwas anders geworden (...) Als könnten die in den Sommerhimmel gezeichneten vertrauten Wege genauso gut ins Gefängnis wie in unschuldigen Schlaf führen." (S. 127)[/zitat]

Im Rückblick gab es sie, die Phasen des Glücks, die Meursault seinerzeit nicht als solche erkannt hatte. Die gnadenlose Ehrlichkeit dieses Mannes wird ihm wohl zum Verhängnis werden.
 

parden

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Am Ende des zweiten Abschnitts im zweiten Teil heißt es:
Dabei habe ich mich an das erinnert, was die Krankenschwester bei Mamas Beerdigung sagte. Nein, es gab keinen Ausweg und niemand kann sich vorstellen, was die Abende im Gefängnis sind.
Ich musste erst mal zurückblättern um nachzulesen, was die Krankenschwester bei der Beerdigung gesagt hatte.
Sie sagte (bezogen auf den Gang in der sengenden Hitze): "Wenn man langsam geht riskiert man einen Sonnenstich. Aber wenn man zu schnell geht, ist man verschwitzt und holt sich in der Kirche eine Erkältung. Sie hatte Recht. Es war ausweglos.
Hier habe ich auch zurückblättern müssen... ;)
 
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Meursault steht seiner Zukunft relativ gelassen gegenüber, vielleicht kann man sogar sagen, dass er sein Schicksal radikal akzeptiert.
Da bin ich noch zwiegespalten, ehrlich gesagt. Anfangs dachte ich das auch, als die Tage so dahertrieben, er einen Tag wie den anderen erlebte. Aber seit Beginn der Gerichtsverhandlung scheint ihm eher bewusst zu werden, was anders ist als früher und was noch kommen könnte. Eine Unruhe in manchen Situationen ist schon spürbar, finde ich.
 
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Leseglück

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Aber seit Beginn der Gerichtsverhandlung scheint ihm eher bewusst zu werden, was anders ist als früher und was noch kommen könnte. Eine Unruhe in manchen Situationen ist schon spürbar, find
Ich hatte bis gerade eben den dritten Teil noch nicht gelesen. Nachdem ich jetzt die Szene mit der Gerichtsverhandlung gelesen habe, geb ich dir Recht. Meursault empfindet Trauer weil er sich von so vielen Menschen abgelehnt fühlt. Er ist dankbar, als sein Wirt sich für ihn einsetzt.

Du schreibst, dass dich manche Stellen berühren. Bei mir war das z.B. die Stelle als Meursault die Fahrt zurück in seine Zelle schildert. Die Geräusche der Stadt am Abend.
[zitat] Ja, es war die Stunde, in der ich mich, vor langer Zeit, wohl fühlte. [/zitat]
Es ist die Situation eines Menschen, der sein Ende vor Augen hat und sich - vielleicht wehmütig - an schöne Momente erinnert. Aber nicht gefühlvoll geschildert sondern ganz karg, was es für mich noch greifbarer macht.

Den letzten Satz in dem Abschnitt verstehe ich genau so wie du.
 

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Leider konnte ich aufgrund meiner Ungeschicklichkeit (Smartphone geschrottet) im Urlaub nicht weiter an eurer sehr interessanten Diskussion teilnehmen. Jetzt bin ich wieder zuhause und am Laptop kann ich wieder schreiben, bis das neue da ist.
Mir erging es wie euch, dass mir der Protagonist im Gefängnis sympathischer wurde. Seine Gefühle wurden greifbarer, denn nicht alles ist ihm gleichgültig, wie die Aussage über die Abende im Gefängnis belegt oder seine Reaktion auf die Ablehnung der Menschen in der Gerichtsverhandlung.

[zitat]Doch zu Beginn meiner Hat war das härteste, daß ich Gedanken eines freies Mannes hatte[/zitat] (S.92),
zeigt ganz deutlich, dass er dieser neuen Veränderung nicht gleichgültig gegenübersteht.
 

Literaturhexle

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Aufgrund privater Turbulenzen mit der älteren Generation kann ich mich leider nicht so einbringen, wie ich möchte.
Mal sehen, ob ich noch neue Aspekte finde.

M. ist selbst klar, dass er gefühlsarm ist. Auf S. 67 gibt er an " dass körperliche Bedürfnisse oft seine Gefühle verdrängen."
Warum das so ist? Bestimmt wird seine Mutter ihn so geprägt haben. Später erfahren wir ja, dass man sich auch ihrer Ansicht nach "an alles gewöhnt".

Dem Untersuchungsrichter geht es wie uns: "An ihnen ist etwas, das ich nicht zu fassen bekomme." M. fühlt sich am Ende der Voruntersuchungen "fast zur Familie gehörig " und freut sich, dass niemand mit ihm böse ist (S.72). Können wir daraus schließen, dass er eine warmherzige Familie gar nicht kennt? Das würde meine These unterstützen, dass die Mutter auch kalt war.

Im Gefängnis ändern sich M.s Gedanken. Dazu habt ihr schon Vieles ausgeführt. Wie er die Zeit durch Erinnerungen und mit Schlaf füllt, das Zeitgefühl verliert. Im Prozess zeigt er wahre Gefühle:

[zitat]... dass ich zum ersten Mal seit vielen Jahren ganz blöd hätte weinen mögen, weil ich fühlte, wie diese Menschen mich verabscheuten (S.90)[/zitat]

[zitat]Aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Verlangen, einen Mann zu umarmen (S. 92)[/zitat]

M. begreift, dass die Dinge nicht gut für ihn stehen. Den letzten Abschnitt, als M. Den Duft des Sommerabends gewahr wird...- da kam mir der Protagonist mal nahe, da hatte ich Mitleid mit ihm.

Mittlerweile erschließt sich auch, warum Tod und Beerdigung der Mutter solch einen großen Raum in der Geschichte einnehmen. Wie der Staatsanwalt sagt:
[zitat]... dass zwischen diesen beiden Tatsachen eine Tiefe, wesentliche Beziehung bestehe. (S.97)[/zitat]