Erster Teil, IV bis VI

Querleserin

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Die Distanz bleibt - doch die Ereignisse überschlagen sich, obwohl man das aufgrund der Erzählweise nicht so wahrnimmt.
Die "Freundschaft" mit Raymond ist mir suspekt. Warum unterstützt er dessen gewalttätiges Verhalten? Selbst wenn dessen Freundin ihn betrogen hat, ist das Grund sie zu verprügeln.
Erhellend ist auch die Reaktion auf das Angebot seines Arbeitgebers nach Paris zu ziehen:
[zitat]Ich habe ja gesagt, daß es mir im Grunde aber egal wäre.[/zitat] (52)
Ähnlich gleichgültig fällt seine Reaktion auf Maries Wunsch zu heiraten aus. Es ist ihm egal und für ihn ohne Belang. Die Ehe hat keine Bedeutung. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle sagt er, was er denkt.

Anzeichen von Gefühlen zeigt er beim Verschwinden des Hundes, als er den Alten weinen hört:
[zitat]Und an dem eigentümlichen leisen Geräusch, das durch die Zwischenwand drang, habe ich erkannt, daß er weinte. Ich weiß nicht , warum ich an Mama gedacht habe.[/zitat] (49/50)
Das Ende dieses Abschnittes hat mich wie ein Paukenschlag erwischt: Mit diesem Mord habe ich überhaupt nicht gerechnet.
 

Helmut Pöll

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Ähnlich gleichgültig fällt seine Reaktion auf Maries Wunsch zu heiraten aus. Es ist ihm egal und für ihn ohne Belang. Die Ehe hat keine Bedeutung. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle sagt er, was er denkt.
Ja, das ist eigenartig. Andere scheinen für ihn überhaupt nicht zu existieren. Ich meine mal irgendwo gelesen zu haben, dass Mersaults Verhalten auch auf Autismus oder Asperger hindeuten könnte.
 

Querleserin

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Das wäre eine gute Erklärung für sein Verhalten. In meiner Ausgabe ist im Klappentext eine Interpretation Camus abgedruckt, in der er erklärt, sein Protagonist sage immer die Wahrheit - ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. In der Szene mit Marie mutet dies trotzdem seltsam an. Es scheint, als könne er keine Gefühle empfinden. Womit wir beim Asperger- Autismus sind.
 

Helmut Pöll

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Die "Freundschaft" mit Raymond ist mir suspekt.
Raymond ist ein völlig unsozialer Typ. ich frage mich auch was mwersault an dem findet, außer er ist vielleicht ähnlich gestrickt.

Auch der Alte in der Nachbarschaft, der ständig seinen Hund verprügelt und dann traurig ist, als er weg ist, ist schon eien seltsame Gestalt.
 

Helmut Pöll

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Die Szene am Strand besiegelt sein Schicksal...
Wenn Mersault in der irrigen Annahme geschossen hätte, der andere ginge mit einem Messer auf ihn los, hätte man angesichts der blendenden Sonne vielleicht sogar mildernde Umstände für ihn geltend machen können.

Aber dass er auf den leblosen Körper noch viermal schießt, das ist mir völlig unerklärlich.
 

Leseglück

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Man kann den Protagonisten Meursault natürlich als Mensch ohne Empathie beschreiben, also jemand mit Asbergersyndrom. Aber ich lese es anders. Camus ist ja Philosoph, genauer Existenzialist. Der Roman lässt das Lebensgefühl eines Existenzialisten (das ich übrigend gut nachvollziehen kann) lebendig werden.
Wir suchen Sinn und Orientierung in unserem Leben - aber wenn man ganz nüchtern auf unser Leben schaut gibt es weder Gerechtigkeit noch Sinn. Eigentlich ist nichts wirklich von Bedeutung. Dies zu erkennen und trotzdem zu leben, das ist das "Absurde" das es auszuhalten gilt.

Diese Grundhaltung wird immer wieder von Meursault geäußert: Er wird von Raymond gefragt ob er sein Kumpel sein will - es ist M. egal. Er wird von seinem Chef gefragt ob er nach Paris gehen möchte, ob ihn eine Änderung im Leben nicht reizen würde. M. antwortet: "Ich habe geantwortet, dass man sein Leben nie änderte, dass eins so gut wie das andere wäre..." Als er sein Studium aufgeben musste sei ihm klar geworden, dass "alles ohne wirklichen Belang ist." Auch ob er Marie heiratet oder nicht hat keine Bedeutung usw.

Was mir nicht gefällt ist aber folgendes: M. findet Raymond interessant. Er setzt sich ja aktiv für ihn ein, für einen Zuhälter und Schläger!...er schreibt den Brief für ihn, er lügt für ihn bei der Polizei, nimmt seine Einladung an und nimmt ihm die Pistole ab, damit R. den Araber nicht erschießt. Ich finde das widerspricht seiner "Egalhaltung"

Anderseits gefällt mir die Art wie Camus eine starke Distanz zu dem Protagonisten herstellt. @Querleserin schreibt, dass im Perfekt erzählt wird. Das ist mir gar nicht so aufgefallen. Aber stimmt. Ich denke dass dadurch auch Distanz geschaffen wird. Es entsteht so der Eindruck, dass M. nicht handelt, sondern dass alles nur geschieht, ohne willentlichen Entschluss.

Die Szene am Stand vor dem Mord ist gut beschrieben fand ich: "Bei jedem Lichtschwert, das aus dem Sand emporgeschossen kam, aus einer gebleichten Muschel oder einer Glasscherbe, verkrampften sich meine Kiefer. Ich bin lange gegangen." Ein schöner Satz um Lebensschmerz auszudrücken.

Dann schießt er auf den Araber - ohne eigentlich eine entsprechende Entscheidung getroffen zu haben. Dann schießt er noch viermal auf den leblosen Körper. "in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es ihm ansah."
Selbst das Töten, das Sterben usw. sind ohne Belang! Eine radikale Haltung. Man darf ja nicht vergessen, dass das noch während des zweiten Weltkrieges geschrieben wurde. Da kann ich die Haltung gut verstehen wenn alles Absurd erscheint.
 

Literaturhexle

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Ich bin @Leseglück auch sehr dankbar für Ihre gekonnte Analyse. Nun habe ich auch eine Idee davon, was ein Existenzialist ist. Der Begriff ist mir schon begegnet- aber ohne Inhalt.

Ich finde das Personal des Buches sehr eigenartig. Diese drei Männer auf der Etage sind alle völlig gefühlsarm. Sie reagieren völlig überzogen. Die Frau, die heimlich Armbänder verpfändete, hat den einen Nachbarn dadurch "betrogen", was skurrile Strafmaßnahmen rechtfertigt.

Der Hundebesitzer braucht den Hund, um ihn zu prügeln und sich anschließend besser zu fühlen. Im Grunde sind die beiden Mitbewohner sich ähnlich.

Unser Protagonist ist völlig gleichgültig gegenüber allem. Zu Raymond empfindet er schließlich doch so etwas wie Freundschaft. Am Strand tickt er dann völlig aus. Als wenn er sich der Konsequenz gar nicht Klar ist... Das würde ja wieder zu der Existenzialisten-theorie passen. Ich tue, was ich meine, alles hat keine Bedeutung. Die Folgen, die die Gesellschaft mir aufzwingt, sind ebenso egal wie alles andere.

Für mich ist dieser (zum Glück kleine) Roman eine typische Schullektüre. Bestimmt steckt da irrsinnig viel drin.
Aber es kommt bis jetzt nicht an mich heran! Es liest sich gut, doch ist diese ganze Welt so abstrakt, so kalt. Bin gespannt, was jetzt kommt. Wird Raymond nun unseren Anti-Helden stützen?
 

Helmut Pöll

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Was mir nicht gefällt ist aber folgendes: M. findet Raymond interessant. Er setzt sich ja aktiv für ihn ein, für einen Zuhälter und Schläger!...er schreibt den Brief für ihn, er lügt für ihn bei der Polizei, nimmt seine Einladung an und nimmt ihm die Pistole ab, damit R. den Araber nicht erschießt. Ich finde das widerspricht seiner "Egalhaltung"
das sehe ich ganz genauso @Leseglück . Dem Unsympathischsten von allen hilft er. Deshalb tue ich mich auch schwer bei dem Mord "nur" an einen Unfall zu glauben. Wie seht ihr das?
 
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Helmut Pöll

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Dies zu erkennen und trotzdem zu leben, das ist das "Absurde" das es auszuhalten gilt.
Gleichzeitig fordern die Existenzialisten wie Sartre oder Camus Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und ihm einen Sinn zu geben. Genau das also, was Mersault nicht macht. Er lässt sich mehr oder weniger von den Umständen dahintreiben und kommt unter die Räder.
 
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Mit dem Mord tue ich mir auch schwer. Hätte er nur einmal geschossen, könnte man es noch als belanglos abtun - im Sinne wie es @Leseglück erläutert hat. Warum schießt er auf den leblosen Körper. Es hat alles keinen Sinn? Mir fällt es schwer die Botschaft dahinter zu sehen.
 
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Ja, das ist eigenartig. Andere scheinen für ihn überhaupt nicht zu existieren. Ich meine mal irgendwo gelesen zu haben, dass Mersaults Verhalten auch auf Autismus oder Asperger hindeuten könnte.
Das hätte ich fast nach dem ersten Abschnitt geschrieben - dass mich Meursault an einen Asperger-Autisten erinnert... :rolleyes: Aber das wäre wohl zu einfach gewesen - Camus hat mit seiner Figur sicher anderes im Sinn gehabt...
 
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Man kann den Protagonisten Meursault natürlich als Mensch ohne Empathie beschreiben, also jemand mit Asbergersyndrom. Aber ich lese es anders. Camus ist ja Philosoph, genauer Existenzialist. Der Roman lässt das Lebensgefühl eines Existenzialisten (das ich übrigend gut nachvollziehen kann) lebendig werden.
Wir suchen Sinn und Orientierung in unserem Leben - aber wenn man ganz nüchtern auf unser Leben schaut gibt es weder Gerechtigkeit noch Sinn. Eigentlich ist nichts wirklich von Bedeutung. Dies zu erkennen und trotzdem zu leben, das ist das "Absurde" das es auszuhalten gilt.

Diese Grundhaltung wird immer wieder von Meursault geäußert: Er wird von Raymond gefragt ob er sein Kumpel sein will - es ist M. egal. Er wird von seinem Chef gefragt ob er nach Paris gehen möchte, ob ihn eine Änderung im Leben nicht reizen würde. M. antwortet: "Ich habe geantwortet, dass man sein Leben nie änderte, dass eins so gut wie das andere wäre..." Als er sein Studium aufgeben musste sei ihm klar geworden, dass "alles ohne wirklichen Belang ist." Auch ob er Marie heiratet oder nicht hat keine Bedeutung usw.

Was mir nicht gefällt ist aber folgendes: M. findet Raymond interessant. Er setzt sich ja aktiv für ihn ein, für einen Zuhälter und Schläger!...er schreibt den Brief für ihn, er lügt für ihn bei der Polizei, nimmt seine Einladung an und nimmt ihm die Pistole ab, damit R. den Araber nicht erschießt. Ich finde das widerspricht seiner "Egalhaltung"

Anderseits gefällt mir die Art wie Camus eine starke Distanz zu dem Protagonisten herstellt. @Querleserin schreibt, dass im Perfekt erzählt wird. Das ist mir gar nicht so aufgefallen. Aber stimmt. Ich denke dass dadurch auch Distanz geschaffen wird. Es entsteht so der Eindruck, dass M. nicht handelt, sondern dass alles nur geschieht, ohne willentlichen Entschluss.

Die Szene am Stand vor dem Mord ist gut beschrieben fand ich: "Bei jedem Lichtschwert, das aus dem Sand emporgeschossen kam, aus einer gebleichten Muschel oder einer Glasscherbe, verkrampften sich meine Kiefer. Ich bin lange gegangen." Ein schöner Satz um Lebensschmerz auszudrücken.

Dann schießt er auf den Araber - ohne eigentlich eine entsprechende Entscheidung getroffen zu haben. Dann schießt er noch viermal auf den leblosen Körper. "in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es ihm ansah."
Selbst das Töten, das Sterben usw. sind ohne Belang! Eine radikale Haltung. Man darf ja nicht vergessen, dass das noch während des zweiten Weltkrieges geschrieben wurde. Da kann ich die Haltung gut verstehen wenn alles Absurd erscheint.
Diese Erläuterung macht den 'Existentialismus' für mich verständlicher. Die Figur des Meursault ist in der Tat sehr konsequent angelegt, was allerdings auch verstörend wirken kann.
 

parden

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Auch dieser Abschnitt ist nun gelesen, und vor allem das letzte Kapitel war wie in einem Alptraum, aus dem man nicht aufwachen kann. Sehr gut beschrieben, trotz der distanzierten Sichtweise, die gleißende Sonne, die alles wabern, kleben, verschwimmen lässt, unterträgliche Hitze, aus der es kein Entkommen gibt, dazu der Wein, der die Sinne zusätzlich vernebelt - die Szene mit dem Araber: einfach nur bizarr. Alptraum eben. Der liegt da - alleine nun - und bleibt auch liegen, macht keine Anstalten sich zu bewegen, zieht nur das Messer, als Meursault näher kommt, und als die Sonne sich in dem Messer reflektiert und Meursault zusätzlich blendet, schießt der mal eben. So einfach. Und so egal... Das Gericht sieht das sicher anders.
 

Leseglück

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Sehr gut beschrieben, trotz der distanzierten Sichtweise, die gleißende Sonne, die alles wabern, kleben, verschwimmen lässt, unterträgliche Hitze, aus der es kein Entkommen gibt, dazu der Wein, der die Sinne zusätzlich vernebelt - it

Finde ich auch gut beschrieben. Dieses Gehen in der gleißenden Sonne mit den Lichtschwertern die aus den Muscheln kommen und aus dem Messer des Arabers...Er beschreibt dieses qualvolle Gehen in der unbarmherzigen Hitzte ja auch bei der Beerdigung seiner Mutter. Ich lese das als ein Sinnbild für das Leben. Zumindest für ein unglückliches Leben, das Leben als Qual aus dem es kein Entkommen gibt.
 

Leseglück

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Gleichzeitig fordern die Existenzialisten wie Sartre oder Camus Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und ihm einen Sinn zu geben. Genau das also, was Mersault nicht macht. Er lässt sich mehr oder weniger von den Umständen dahintreiben und kommt unter die Räder.

Ja das habe ich auch so verstanden. "Der Fremde" ist vielleicht ein Anti Held. Oder anders gesagt: Er bleibt in der Erkenntnis sozusagen stecken, dass alles Belanglos und Absurd ist. Die Schlussfolgerungen daraus, die Camus später gezogen hat, also dass jeder seinem Leben selbst einen Sinn geben soll usw. wird in diesem Roman wohl weniger thematisiert - jedenfalls bis jetzt.