Rezension Rezension (3/5*) zu Über uns: Roman von Eshkol Nevo.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Über uns: Roman von Eshkol Nevo
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Überich - Überuns

Passend zu den Feierlichkeiten des 70-jährigen Bestehens des Staates Israel durfte ich mich auch lesend mit diesem Land befassen und zwar im Rahmen der Leserunde zu Eshkol Nevos „Über uns“, frisch erschienen im dtv-Verlag.
Der Roman führt uns in ein Mietshaus in einem Teil Tel Avivs. In diesem Haus arbeitet sich der Autor für den Leser durch die drei Etagen und erzählt in drei unterschiedlichen und nur lose verbundenen Teilen die Geschichten der jeweiligen Bewohner.
In der ersten Etage geht es dabei um ein junges Ehepaar mit einer kleinen Tochter von 8 (?) Jahren. Der Mann erzählt einem alten Freund bei einem Treffen im Café die Geschichte seiner aktuellen Situation. Dabei geht es um einen eher diffusen Verdacht eines sexuellen Übergriffs gegenüber dem Nachbarn. Diesem hatte das Ehepaar die Tochter zur Aufbewahrung anvertraut und in einer etwas zweifelhaften Situation wieder abgeholt. Der Mann setzt danach alles daran, um den Zweifel aufzuklären und auszuräumen und den alten Nachbarn des Übergriffs zu überführen. Dabei nähert er sich auch dessen minderjähriger Enkelin an, die ihn /die er verführt.
In einer Atmosphäre des Selbstmitleids und des tiefen Leidens wird diese Geschichte dem Freund erzählt. Ein kommunikativer Austausch findet dabei nicht statt. Es geht einzig um die nach Bestätigung heischende Sichtweise des Mannes.
Diesen Teil des Romans fand ich nur schwer erträglich wegen dieser vor Selbstmitleid und männlicher Selbstgefälligkeit triefenden Grundhaltung.
In der zweiten Etage lebt eine junge Mutter, die nach der Geburt eines Kindes ihre Stellung aufgegeben hat und den Plan verfolgt, parallel zur Kinderbetreuung von zu Hause aus Arbeit als Architektin zu verrichten. Das schafft sie aber nicht. Sie verbittert an dieser Situation immer mehr und gibt an der Bitterkeit der Lebenslage vor allem ihrem Mann die Schuld, der sich in seinem Job ständig auf Dienstreise befindet und sie und das Kind vernachlässigt. Die Frau aber wacht und blüht auf, als sich bei ihr ihr Schwager in einer kritischen Lebenssituation meldet. Dieser Schwager (Bruder des Ehemannes) ist das genaue Gegenteil des Ehemannes und deshalb auch schon seit langem mehr oder weniger ohne Kontakt zu ihm. Nun ist die Polizei auf seinen Fersen wegen des Verdachts auf groß angelegten Betrug und er braucht für einige Tage ein Versteck. Die Lebensfreude und die unkonventionelle Einstellung des Schwagers kann die Frau ein wenig anstecken und aus ihrer Lethargie und ihrem Selbstmitleid herausreißen. Das führt dazu, dass sie einen Anstoß zur Veränderung erhält und diesen auch umsetzt nachdem der Schwager wieder verschwunden ist: sie versucht in ihren alten Job zurückzukehren.
Diese Geschichte erfahren wir wiederum in einer eindimensional ausgerichteten Kommunikation. Dieses Mal ist es ein Brief der Frau an eine alte, nach Amerika ausgewanderte Freundin.
In der dritten Etage lebt eine pensionierte Richterin, die ihrem verstorbenen Mann in kleinen Einheiten (so wie es die Technik jeweils zulässt) auf dessen Anrufbeantworter davon berichtet, wie sie ausbricht und die von ihm in der Vergangenheit aufgestellten Regeln und Konventionen bricht und verlässt, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und den langjährig anhaltenden Bruch mit dem Sohn zu überwinden. Sie nimmt an einer großen sozialpolitischen Demonstration teil, trifft dort auf eine Gruppe von Psychologen, die ihren juristischen Rat brauchen und einen Mann, der sie zu ihrem lange verlorenen Sohn zurückführt. Das alles krempelt ihr Leben komplett um und hilft ihr, die dritte Etage des Hauses schließlich auch verlassen zu können.
In diesem dritten Teil des Romans gibt der Autor dem Leser einen sehr deutlichen Hinweis auf den Schlüssel zum Verständnis des Romans oder zumindest dessen Konstruktion: die drei Etagen, die hier beschritten werden, stehen irgendwie stellvertretend für das Strukturmodell der Psyche nach Sigmund Freud (Es, Ich, Überich) und der Leser hat sich mit Lesen des Romans langsam nach oben durcharbeiten können und hat die Tiefen des Es, das für das Lustprinzip mit Trieben, Wünschen und Verdrängtem steht, verlassen können, um schließlich das Moralitätsprinzip zu erreichen, in dem Regeln und Gebote herrschen und den Menschen bestimmen.
FAZIT:
Auch wenn ich Teile des Romans von Eshkol gern und mit Freude gelesen habe bleiben bei mir doch sehr entscheidende Probleme damit bestehen:
1. Es ist mir nicht gelungen, die drei Teile tatsächlich zu einem Roman zusammenzufügen. Es bleibt bis zum Ende für mich eher eine Erzählsammlung, die bestenfalls durch eine etwas mühsame Erzählkonstruktion des Autors zusammengehalten wird. (siehe 2)
2. Der „Roman“ erscheint mir etwas überkonstruiert. Schon die Vorstellung der drei Etagen eines Hauses funktioniert für mich nicht. Es bleiben einzelne Wohnungen/Etagen und das Haus an sich wird für mich im Roman nie greif- oder sichtbar. Die Überstülpung des Freud-Schlüssels über diese Konstruktion dann setzt dem noch einen drauf. Hier geht Eshkol mit der Holzhammermethode auf den Leser los und lässt ihm nicht die eigene Interpretation und Bewertungswelt, sondern stellt ihm die Bewertungsanleitung gleich zur Verfügung. Will ich das wirklich in einem literarischen Text?
3. Die erzählten Geschichten erscheinen mir in die Überkonstruktion des Romans (siehe 2) so sehr hereingepresst, dass wenig Raum bleibt, um tatsächlich in das Leben der israelischen Gesellschaft einzutauchen. Ich erfahre letztendlich erstaunlich wenig über diese Gesellschaft, ihre Probleme, Anliegen und Wünsche und tauche nicht ein in sie. Hieran scheint mir vor allem der durchgängig eindimensionale Kommunikation in dem Roman geschuldet. Wo kein Austausch stattfindet, findet keine Reibung statt. Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Wirklichkeiten kann ich so nur sehr eingeschränkt gewinnen.
Ich kann diesem Roman aus all diesen Gründen leider nicht mehr als 3 Sterne geben.


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