Rezension Rezension (5/5*) zu Judas: Roman (suhrkamp taschenbuch) von Amos Oz.

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.639
4.795
49
62
Essen
Buchinformationen und Rezensionen zu Judas: Roman von Amos Oz
Kaufen >
Verräter! – Danke für das Kompliment

2015 erhielt Amos Oz den Internationalen Literaturpreis 2015, der in Deutschland für das beste übersetzte Buch des Jahres vergeben wird. Es schildert eine einfache Geschichte und komplexe Gedanken- und Diskussionsansätze, die die Geschichte Israel mit all seinen Konflikten, seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung in den Mittelpunkt des Buches stellt.
Der Autor hat mich schon lange gereizt und so wurde es zum Einstieg dieses Buch, das mich voll und ganz „gekriegt“ hat. Die Handlung ist sehr einfach und schnell erzählt:
Im Leben des Studenten Schmuel Asch bricht gerade so Einiges zusammen: seine Freundin hat ihn verlassen, seine Eltern können wegen Konkurs sein Studium nicht mehr unterstützen, seine wissenschaftliche Arbeit stockt. Und so bricht er das Studium ab und findet eine neue Lebensstation durch eine Anzeige am Schwarzen Brett als Gesellschafter eines eigentümlichen alten Mannes. In dessen dunklem, geheimnisumwitterten Haus in Jerusalem findet er so einen Winter lang im Jahr 1959 Unterschlupf und Beschäftigung. In dem Haus lebt auch die unnahbare und undurchschaubare, aber ungemein anziehende Atalja Abrabanel, in die Schmuel sich verliebt. Nach einigen Monaten und nach kurzen Annäherungen zwischen Schmuel und Atalja erlässt er nach dem Winter das Haus wieder und tritt hinaus in sein weiteres Leben.
So die einfache Geschichte, die eigentlich nicht mehr ist als ein Rahmen für Diskussionen und Gedankenspiele, die sich vor allem um zwei Figuren ranken:
1. Judas Ischariot, der Jesus mit einem Kuss verraten hat und in der weiteren historischen Rezeption dieser Bibelepisode quasi als Ursprung des Judenhasses der Christenheit wirkt. Schmuels wissenschaftliche Arbeit rankt sich um das Jesusbild der Juden über die Jahrhunderte hinweg. Sein besonderes Interesse verschiebt sich bei dieser Arbeit aber immer mehr auf die Rolle, die Judas in der Geschichte des Christen- und Judentums gespielt hat. Und hier bietet er eine Sichtweise an, die von den üblichen Mustern deutlich abweist. Für ihn ist Judas nämlich eigentlich der erste Christ bzw. der eigentliche Begründer des Christentums. Ohne ihn nämlich wäre Jesus und seine besondere Rolle als Sohn Gottes gar nicht ins Licht der Öffentlichkeit getreten. Erst Judas bringt Jesus und seine Jünger dazu, die ländlichen Gebiete Galiläas zu verlassen und nach Jerusalem zu ziehen. Er verrät ihn an die Römer, um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Göttlichkeit unter Beweis zu stellen. Denn Judas sei überzeugt gewesen davon, dass Jesus auch am Kreuz wieder Wunder wirken kann und sich vom Tode befreien wird, wie er auch andere Tote zuvor zum Leben erwecken konnte. Als dies nicht geschieht und Jesus stirbt, nimmt Judas sich aus Verzweiflung das Leben. Die Auferstehung erlebt er so nicht mehr.
2. Schealtiel Abrabanel, verstorbener Vater von Atalja – eine fiktive Gestalt, die von Amos Oz in die israelische Gründungsgeschichte hineinprojiziert wird als jemand, der im inneren Kreis der Gründungsväter um Ben Gurion herum gegen die Staatenwerdung Israels opponiert. Das macht er aus der Überzeugung heraus, dass ein Staat Israel gegen die arabischen Nachbarn keine Chance haben kann und dass das Konstrukt eines Staates sich in naher Zukunft sowieso allüberall auf der Welt überlebt haben wird und insbesondere in dem konfliktbeladenen Gebiet Palästinas kein Zukunftsentwurf sein kann. Abrabanel wird wegen dieser extrem abweichenden Haltung als Verräter an der Sache Israels in Unehren entlassen und all seiner Ämter enthoben, er geht in ein inneres Exil und der Staat Israel wird gegründet, wie Ben Gurion und die jüdische Bevölkerung Palästinas es herbeigesehnt haben.
Diese beiden Verräterfiguren und ihre tatsächliche oder mögliche Geschichtsgestaltung stehen im Mittelpunkt der Gedankenhandlung dieses Romans. Das stellt die Frage nach ganz existentiellen geschichtlichen Alternativen und nach der Bewertung von verräterischem Handeln. Ist es nicht vielleicht eine Notwendigkeit, um Geschichte voranzutreiben und positiv zu gestalten. Sind Verräter nicht die eigentlichen, die tragischen Helden? Endgültige Antworten gibt der Roman zu den Fragen rund um das Verrätertum nicht, wohl aber stößt er die Suche nach Antworten an. Und wird so zu einem tief philosophisch verwurzelten Roman, der gleichwohl gut lesbar ist.
<I><B> „Ein Buch, in dem man wohnen will.“ </I></B>So Hannes Stein in der „Literarischen Welt“.
Hannes Stein, der dieses Zitat schuf, führt in einer Rezension den interessanten Gedanken aus, dass Amos Oz, obwohl er in Israel lebt und auf Hebräisch schreibt, mit gutem Grund und Hintergrund auch als russischer Autor und seine Romane ebenso als russisch gesehen werden können. Und tatsächlich handelt es sich bei „Judas“ um einen Roman von Dostojewskischen Ausmaßen – nicht was die Länge angeht (es sind nur gut über 300 Seiten), aber was die existentiellen Fragestellungen, die er aufwirft, betrifft. In ihm werden die ersten und die letzten Fragen des Lebens gestellt und bewegen den Leser.
MEIN FAZIT:
Auch ich habe mich in diesem Roman sehr wohl gefühlt und wollte, wie Hannes Stein, gern in ihm wohnen. Ich bin aus dem Roman aufgewacht und hatte das Gefühl, wirkliche Weltliteratur gelesen zu haben, was bei zeitgenössischen Romanen ja alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, denn Weltliteratur sucht man wohl eher in der Vergangenheit und früheren Autorengenerationen. Aber nein! Hier ist einer.
Deshalb fällt es mir auch schwer, hier das 5 Sterne-Bewertungsschema anzuwenden.
5 Sterne sowieso, aber welches Plus kann ich noch dazu geben?
Gern verführe ich auch Euch zu dieser Lektüre!
Amos Oz steht mit weiteren seiner Romanen bei mir ab heute auf jeden Fall ganz weit oben auf der Lesewunschliste. Schlecht für den weiteren SUB, aber es brennt in mir nach mehr!