Rezension Rezension (4/5*) zu Fräulein Hedy träumt vom Fliegen von Andreas Izquierdo.

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Fräulein Hedy träumt vom Fliegen von Andreas Izquierdo
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Eine warmherzige Geschichte voller Gegensätze...

Alt und jung, reich und arm, schüchtern und selbstbewusst, Zukunft und Vergangenheit, schwere Themen und viel Humor - ein Buch voller Gegensätze präsentiert Andreas Izquierdo hier. Doch worum geht es in dem Roman überhaupt?


"Dame in den besten Jahren sucht Kavalier, der sie zum Nacktbadestrand fährt. Entgeltung garantiert."


Diese Annonce schaltet die 88jährige Hedy von Pyritz in der örtlichen Tageszeitung und sorgt damit für einen handfesten Skandal. Eigentlich ist die alte Dame eine anerkannte Persönlichkeit in dem kleinen Städtchen im Münsterland, leitet sie doch in ihrer hochherrschaftlichen Villa eine Stiftung zur Förderung hochbegabter Kinder und verkehrt selbstverständlich mit den honorigsten Herrschaften des kleinen Ortes. Doch nun scheint das Fräulein wohl verrückt geworden zu sein, sie, die stets so diszipliniert, scharfzüngig und mit hellwachem Verstand alles nach ihrem Willen zu dirigieren vermag?


"Die Königin war erwacht, ein Spatz hatte an ihrem Haar gezupft. Lass ihn ein in den großen Irrgarten der unerzählten Geschichten. Öffne das Fenster und biete ihm die Welt." (S. 11)


Aber nein, Fräulein Hedy ist alles andere als verrückt - sie weiß nur genau, was sie will. Und auch diesmal gedenkt sie, ihren Wunsch durchzusetzen, auch wenn alle anderen darüber den Kopf schütteln. Sie muss nur noch den richtigen Begleiter finden. Und wird letztlich tatsächlich fündig. Ihr Physiotherapeut scheint ihr der geeignete Kandidat zu sein, der sie zum Nacktbadestrand fährt. Doch Jan ist sehr zurückhaltend und wenig selbstbewusst - und er hat vor allem keinen Führerschein! Wie sich herausstellt, hat er dafür eine handfeste Lese-Rechtschreib-Schwäche, die er bisher vor allen verborgen hat. Doch Fräulein Hedy wäre nicht die, die sie ist, wenn sie nicht alles daran setzen würde, ihr Vorhaben doch noch umzusetzen. Und so besteht sie darauf, dem jungen Mann nicht nur das Lesen und Schreiben beizubringen, sondern ihn auch seinen Führerschein machen zu lassen.


"Und ich wusste in dieser Sekunde, dass ein einzelner Kolibri über einen ganzen Schwarm Raben triumphieren konnte. Eine Erkenntnis, die mich für immer prägen solte. Und mich isolierte." (S. 177)


Durch die intensive Zeit, die Fräulein Hedy und Jan vor allem im Rahmen des Unterrichts fortan miteinander verbringen, entspinnt sich ganz allmählich eine Vertrautheit und Freundschaft zwischen den beiden. Diese wird einige Male arg auf die Probe gestellt, doch gehen sie immer wieder aufeinander zu. Fräulein Hedy beginnt zu erzählen, ihre Lebensgeschichte und mehr - und auch Jan wird zunehmend offener. Beide beginnen sich zu verändern und werden zukünftig nicht mehr die sein, die sie mal waren...


"Weil es im Leben nur darum geht, nur um diese eine Sache: zu fliegen! So lange wie möglich zu fliegen! So hoch wie möglich zu fliegen! Wir müssen alle landen, aber bevor wir das tun, können wir fliegen!" (S. 205)


Federleicht kommt die Geschichte anfangs daher, doch nur zu bald halten auch ernste Themen hier Einzug. Allein schon die Ausflüge in die Vergangenheit Hedys lassen nicht nur fast ein Jahrhundert vorüberziehen, sondern führen vor allem die Schrecken des Krieges vor Augen. Doch auch die nicht einfachen Familienkonstellationen von Hedy und Jan spielen hier eine große Rolle - auf die ich jedoch nicht näher eingehen kann ohne zu spoilern. In dieser Geschichte müssen auch immer wieder schwere Entscheidungen getroffen werden, was vor allem Jan nicht leicht fällt.


"Sie können Kugeln ausweichen, Entscheidungen nicht."


Manche der Entscheidungen fand ich persönlich bedenklich, aber auch hierauf kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen ohne zu spoilern - und letztlich muss mir ja auch nicht alles gefallen, was Romanhelden so treiben. In der Summe sind es vielleicht ein wenig zu viele (schwere) Themen, die sich hier letztlich versammeln, aber Andreas Izquierdo gelingt die Balance zwischen dem tiefen Ernst und vielen humorvollen Einlagen. So ist der Leser in einem Moment noch geschockt oder berührt, nur um im nächsten Augenblick in ein Kopfschütteln oder Lachen zu verfallen. Solch gelungene Mischungen mag ich sehr.


"Gibt es Ärger?", fragte Jan höflich. "Den gibt es, seit Menschen beschlossen haben, von den Bäumen herabzusteigen. Das hat dem einen oder anderen nicht gutgetan!" (S. 49)


Ein warmherziger Roman voller Gegensätze, der federleicht daherkommt und dabei viele schwere Themen entblättert. Ein Roman, der Zeit braucht und den Leser tief in die Geschichten und die Geschichte eintauchen lässt, der berührt und unterhält und dabei vieles anreißt, über das sich nachzudenken lohnt. Kurz: lesenswert!


© Parden