Rezension Rezension (5/5*) zu Olga von Bernhard Schlink.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Olga-stark, in den Grenzen der Gesellschaft


Olga, den neuen Roman von Bernhard Schlink, habe ich in der Whatchareading-Leserunde mit anderen Lesern und Leserinnen lesen dürfen und dort auch schon diskutiert.
Schlink nimmt uns mit in die Welt von Olga in ihrem langen Leben von Beginn des 20. Jahrhunderts über die 2 Weltkriege und in die Bundesrepublik hinein.
Olga ist eine Frau, die sich ihren Weg hart erkämpfen muss. Nach frühem Verlust ihrer Eltern wächst sie ohne familiäre Rückendeckung und die Möglichkeit zur Schulbildung auf. Und dennoch erkämpft sie sich ihren Weg, holt Bildung mit viel Ehrgeiz und Disziplin nach, schließt Freundschaft zu einem Geschwisterpaar aus „hohem Hause“ – Herbert und Viktoria – und erfährt von beiden - auf sehr unterschiedliche Art und Weise – neben Freundschaft und Liebe auch Leid. Viktoria stellt sich sehr früh offen gegen sie und eine mögliche Beziehung Olgas zu ihrer Familie. Herbert wird auf Lebenszeit ihr Geliebter und (Nichtehe-)Mann, auch wenn er sie letztlich nie ganz in sein Leben hinein- und an sich heranlässt. Herbert zieht es vielmehr in die Weite – er macht Expeditionen u.a. nach Südwestafrika und Karelien, genießt dort Leere und Weite und Größe des Landes. Olga bleibt derweil wie selbstverständlich in der Enge von Kleinstadt oder Dorf zurück und hat an den Lebensinhalten des Mannes nur sehr bedingt wirklich Anteil. Auch wenn die Beziehung über Jahre und Jahrzehnte hinweg hält, es kommt nie zur Heirat. Olga bleibt das „Fräulein Rinke“, das sich mit den sehr wenigen Möglichkeiten zum Geldverdienen, die in diesen Zeiten für Frauen existierten, über Wasser hält. Sie stößt als Lehrerin in deren wohl oberste Grenzbereiche vor und bleibt im Alter und mit Krankheit dann doch auf Näharbeiten für reiche Leute angewiesen. Ohne Möglichkeit der Heirat mit dem geliebten Herbert sind ihre Lebensperspektiven sehr eingeschränkt, geben ihr aber auch ein Maß an Freiheit zu eigenen Entscheidungen und Unabhängigkeit, die ihr sehr wichtig sind. So lernt der Leser Olga als eine Frau kennen, die diese Situation und zementierte Rollenverteilung wohl weitgehend erkennt und sie auch teilweise bedauert, sie auf der anderen Seite aber nicht wirklich in Frage stellt, sondern akzeptiert.
Schlink berichtet uns von diesem meist leisen und langsamen Leben der Olga Rinke in drei verschiedenen Romanteilen.
Teil 1 berichtet ein außenstehendder, den Romanpersonen relativ distanziert gegenüberstehender Erzähler.
Teil 2 berichtet als Ich-Erzähler ein guter junger Freund von Olga, Ferdinand, der als jüngster Sohn einer Familie lebt, die Olga im Alter regelmäßig Näharbeiten gibt. Die Freundschaft zwischen Olga und Ferdinand hält dabei für das ganze Leben.
Teil 3 druckt von Ferdinand wiederaufgetriebene Briefe ab, die Olga über Jahre an Herbert schrieb, als dieser zu einer Expedition ins Nordmeer aufgebrochen war und dort verschollen blieb.
Alle drei Teile bieten eine jeweils andere Sicht auf die Romanheldin, die der Leser schon aus Teil 1 meint, sehr gut kennen gelernt zu haben. Es gibt immer wieder neue Sichtweisen und neue Informationen aus ihrem Leben, die nach und nach das Bild sowohl durch Ergänzung und Bestätigung aber auch durch Verwerfung abrunden. Ihr Leben hält einige Geheimnisse bereit, die sich dem Leser langsam und mit Verspätung eröffnen, die aber in einer Rezension natürlich nicht ausgeplaudert werden sollen.
Mit dem Kennenlernen der Person Olga taucht der Leser ein in die Lebens- und Gedankenwelt unserer Groß- oder Urgroßelterngeneration, in die uns Schlink auf schriftstellerisch sehr hohem Niveau eintauchen lässt. So sehen wir an der Beziehung zwischen Olga und Herbert, dass dem Miteinander von Mann und Frau zu dieser Zeit erhebliche Grenzen gesetzt waren, die sich wie selbstverständlich und erziehungsmäßig verfestigt in den Köpfen und Verhaltensweisen festgesetzt hatten. Hat Herbert jemals seine wichtigsten Lebensentscheidungen mit Olga abgestimmt? Oder auch nur versucht sie ihr zu erklären? Dazu sah er wohl nicht die Spur einer Notwendigkeit oder eines Anlasses:
" ‚Haben Sie ihn gefragt, warum…‘ [fragt Ferdinand sie] ‚Ach, Kind…wir haben über schwierige Sachen nicht geredet. Wenn wir zusammen waren, wenn wir endlich zusammen waren, war er voller Unruhe. Er war immer voller Unruhe. In ihm rannte es, und ich musste daneben herrennen und konnte, was ich sagen wollte, nur atemlos herauskeuchen‘"
Herbert, so sehr er Olga auch liebt – und an seiner Liebe zweifelt Olga nicht und lässt uns Leser auch der Autor nicht ins Zweifeln kommen - lässt sich doch nie ganz und im heutigen Sinn auf die Beziehung ein. Die Frau in der Beziehung wird auch als sehr weitgehend emanzipierte Olga niemals zum gleichwertigen Partner. Sie steht hinter dem männlichen Streben nach Mehr, nach Weite, nach Größe und nach Schnelligkeit immer ein deutliches Stück zurück.
" Ach, mein Liebster. Wenn Du da bist, tue ich mich mit Deinen beiden Seiten leicht. Wie wenn Du beim Lied der Deutschen neben mir stehst und Dir zuerst Deutschland über alles geht und Dich dann die deutschen Frauen und die deutsche Treue begeistern und Du mir zulächelst und meine Hand nimmst.“
Fazit:
Ein toller Roman, der Einblick gibt in die Gedanken- und Seelenlage einer Generation, die uns noch gar nicht so ganz fern ist und die uns doch so fremd erscheint. Ein Roman, der mich sowohl inhaltlich als auch von Struktur, Aufbau und Sprache her vollüberzeugen konnte. Er lässt mich als Leserin nachdenklich zurück. Fragen entstehen zum Beispiel wie:
• Haben wir das männliche Streben nach Weite und Größe in unserer Zeit wirklich domestizieren können, oder zeigt es sich doch nicht allüberall mal wieder?
• Wenn es wirklich domestiziert werden konnte, dann um welchen Preis? Reine Aufgabe erscheint wenig wahrscheinlich.
Zum Ende also: Gut sind vor allem Bücher, die den Leser noch lange beeinflussen und in seinem oder ihrem Kopf herumspuken. Das ist bei „Olga“ mit den Fragen, die die Lektüre bei mir aufgeworfen haben, ganz sicher der Fall. Also nichts spricht gegen wirklich dicke, fette
5 STERNE.



 
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