Rezension Rezension (5/5*) zu Walter Nowak bleibt liegen von Julia Wolf.

Atalante

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20. März 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Walter Nowak bleibt liegen von Julia Wolf
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Rekonstruktion. (Herrlich) unkorrekt

Der Titel dieses kurzen, intensiven Romans ist Programm. Ein Mann an die 70 stürzt im Bad und bleibt liegen. Es ist weniger sein Alter, das ihn zu Fall bringt, sondern eine Ablenkung durch eine Frau oder besser Walter Nowaks Reaktion auf diese. Später wird er erzählen, er habe sich beim Schwimmen verschätzt und sich den Kopf am Beckenrand gestoßen.

Julia Wolf, die 2016 mit einem Ausschnitt aus ihrem damals noch unveröffentlichten Roman den 3sat Preis beim Bachmann-Wettbewerb gewann, wurde mit dem vollendeten Werk ein Jahr später für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr Erzählstil wirkt erfrischend neu, auch wenn er berühmten Vorgängern verhaftet ist.

Die Autorin führt den Leser mitten hinein in Walter Nowaks Hirn und lässt ihn an einem Strom von Erinnerungen und Assoziationen teilhaben. Für die biographische Authentizität der Figur gibt sie keine Garantie, sie unterläuft sie mit den Träumen und Phantasien ihres Helden. Walters biographisches Gedächtnis ist wie bei jedem anderen ein subjektiv gewünschtes, in seinem speziellen Fall kommt ein durch den Sturz leicht lädiertes Hirn hinzu.

Sein Erinnern schweift also vom unmittelbaren Geschehen zur Geschichte im Schwimmbad bis zu längst vergangenen Ereignissen. Sobald sich Walter der Realität bewusst wird, versucht er seine Lage auf den Badezimmerfliesen zu erklären. Nicht sich selbst, sondern seiner Yvonne, die bald zurückkehren und ihn fragen wird. Während er sich eine Version zurechtlegt, branden in immer neuen Wellen Erinnerungen an den Rand seines Bewusstseins. Dem 68-jährigen macht nicht die aktuelle hilflose Situation seines Körpers zu schaffen. Ihn stört sein Alter, gegen das er jeden Morgen eisern anschwimmt. Zudem bedroht ein urologischer Befund, noch dazu erhoben von einer Frau, sein männliches Selbstverständnis. Fit und viril will er bleiben, für sich und für seine junge Frau Yvonne, in seinen Wunschträumen auch für andere. Doch es fällt ihm zunehmend schwer mit Yvonne Schritt zu halten. Sie, wegen der er die Ehe mit Gisela, aber auch seinen Sohn Felix verlassen hat, entfernt sich zunehmend. Walter hadert mit ihren Einstellungen und ihrem Engagement und hält ihre gesunde Ernährung sowie ihre politische Korrektheit für übertrieben. Dies gefährdet ihre Beziehung, aber anstatt zu reden, entwickelt Walter Eifersucht. Dabei ist er selbst kein Unschuldslamm, sonst würde er nicht hilflos hier liegen und nach einer Erklärung für Yvonne suchen. Die, so hofft er, kommt spätestens am nächsten Morgen zurück. Walter wartet und versinkt im Meer seiner Erinnerungen, umso tiefer, je länger er liegt. Vorbei an erster Ehe und Beruf landet er in seiner Kindheit und einem vergessen geglaubten Trauma. Die Grenzen zwischen tatsächlich Geschehenem und phantasievoll Ausgeschmücktem verschwimmen.

Walters Gedankenbruchstücke setzt Julia Wolf durch eine allmähliche Auflösung der Syntax in Szene, die zerbricht, wenn ihr Held auf den Fliesen erwacht. Sobald er jedoch wieder in seine Traumerinnerungen abtaucht, fließt sie wieder. „Ich muss mich jetzt mal. Zusammen. Reißen. Diesen Tag rum. Reißen.“ Oder „Aus keiner Mücke, Elefanten, das wollen wir nicht. Nein.“ Die Trennung der Sätze durch Punkt und Komma verleiht den Worten eine besondere Betonung. Sie markiert den Zustand des Erzählers, dessen Unzuverlässigkeit den Leser geschickt in die Irre zu führen vermag. Gespannt erlebt dieser eine Odyssee durch Walters Gedankenfluten, liest amüsiert Walters herrlich unkorrekte Ansichten, um schließlich von der schnöden Wahrheit überrascht zu werden.