Rezension Rezension (4/5*) zu Die zweite Luft von Bernd Mittenzwei.

Renie

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19. Mai 2014
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Wer hätte das gedacht?!

Die Novelle "Die zweite Luft" von Bernd Mittenzwei gehört zweifellos zu einem meiner Glücksgriffe ins Bücherregal. Wobei der Verlag A. Fritz kräftig nachgeholfen hat. Hätte mir der Verlag dieses kleine, aber feine Büchlein nicht vor einiger Zeit als Leseexemplar angeboten, wäre es nie in mein Regal gelangt. Die Buchbeschreibung hat mich jedoch neugierig gemacht. Die entscheidende Frage war für mich: "Und das soll funktionieren?"
In diesem Buch geht es um drei einander fremde Personen, die an einer Kreuzung irgendwo in der Oberpfalz der 80er Jahre zufällig aufeinandertreffen. Nicht mehr und nicht weniger. Und aus diesem banalen Ansatz heraus hat der Autor Bernd Mittenzwei eine Geschichte geschaffen, die mich schlichtweg umgehauen hat.

Die Novelle beginnt mit Lydia. Diese tritt zu ihrer morgendlichen Laufrunde an. Und sie läuft und läuft, dabei schießen ihr diverse Gedanken durch den Kopf, die sie mit dem Leser teilt.

Am Abend zuvor ist Ernst Stenger mit seiner Frau Nadine bei den Nachbarn eingeladen. Stenger kann seinen Nachbarn nicht ausstehen, würde am liebsten absagen, gibt aber dem Druck seiner Frau nach. Frauen haben so ihre Mittelchen, um ihre Männer gefügig zu machen. Der Abend beginnt, wie Stenger befürchtet hat .... unerträglich. Da hilft nur Alkohol.

Desweiteren trifft der Leser auf Stefan, den Altenpfleger, der einen besonders anstrengenden Zögling betreut, und welcher Stefan völlig unverblümt sein Durchschnittsleben vorwirft. Das Schlimme ist, dass der Alte auch noch Recht hat.
Für Stefan und Stenger endet der Abend sehr überraschend - nicht nur für sie selber, sondern auch für den Leser.
Denn am nächsten Tag kommt es morgens zu einem Aufeinanderprallen der 3 Fremden. Sie durchleben ein Ereignis, mit dem keiner gerechnet hat.


Die Charaktere:
Mein Leserherz schlägt für die beiden Männer. Obwohl Stenger Alkoholiker ist, mit allem, was dazu gehört, habe ich große Sympathien für ihn entwickelt. Er, der sich in sein Schicksal fügen und den unsympathischen Nachbarn ertragen muss. Stenger versucht, sich den Abend schön zu trinken. Manchmal hilft halt nur Alkohol. Dabei ist Stenger lustig und bietet dem nervigen Nachbarn verbal die Stirn, fernab von jeder Höflichkeit. Stender läuft in dieser Situation zur Höchstform auf und den Leser freut soviel hemmungslose Offenheit. Aber Stenger hat auch eine Vergangenheit, die ihn zu dem Alkoholiker und Zyniker gemacht hat, der er heute ist. Erst zum Schluss erfährt der Leser die ganze Wahrheit um Stenger.

"Und einer wie er selbst, einer, der das Leben sieht wie es ist, der geradeheraus ist und keinem etwas vormacht, der gibt das Arschloch für euch alle. Ja, glaubt denn hier irgendwer, es macht Spaß, das Arschloch zu sein?" (S. 124 f.)

Stefan ist eigentlich als Altenpfleger zufrieden mit seinem Leben. Doch andere sind es nicht. Insbesondere seine Eltern hätten sich für ihren Sohn einen ambitionierteren Beruf gewünscht. So ficht Stefan einen ständigen Kampf aus: das, was er will gegen das, was andere für ihn wollen. Wenn ihn dann auch noch seine Zöglinge kritisieren, dass er aus seinem Leben nichts gemacht hat, und er ein Versager ist, läuft das Fass über. Stefan setzt sich auf seine ganz eigene Art zur Wehr. Nur an die Konsequenzen hat er in diesem Moment nicht gedacht.

"Er lebte in einer anderen Welt. Einer Welt, in der es stank, in der es Leid gab, einer Welt, in der man starb. Das war in ihren Augen unverzeihlich." (S. 90)

Bleibt noch Lydia, die ewig Laufende. Laufen ist für sie ein Mittel, den Kopf freizukriegen. Beruflich läuft es nicht, privat auch nicht. Während sie durch die Oberpfalz läuft und ihren Gedanken nachgeht, lernt man eine Lydia kennen, die sehr zurückhaltend ist und mit einem Mangel an Selbstbewusstsein zu kämpfen hat. Erst das Zusammentreffen mit Stenger und Stefan macht aus der schwachen Lydia eine starke Lydia. Fast scheint es, als ob dieses Aufeinanderprallen der drei Fremden der Schlüssel zu Lydias Selbstvertrauen ist. Die beiden Männer sind handlungsunfähig - der eine, weil er sturzbetrunken ist, der andere, weil es ihn mit dem Fahrrad zerlegt hat. Lydia nimmt das Zepter in die Hand, sagt den beiden Männern, was zu tun ist und strotzt nur so vor Sicherheit. Lydia ist am Ende die gute Fee, die den beiden Männern den Weg zurück in ein geordnetes Leben weist.

Erwähnen möchte ich noch den Sprachstil von Bernd Mittenzwei. Seine Sprache zeichnet sich durch geistreichen Wortwitz aus. Es macht Spaß, seinen sehr bildhaften Ausführungen zu folgen. Der Autor scheint ein Freund von Metaphern und Vergleichen zu sein. Das bin ich auch. Doch manchmal war es mir in dieser Novelle des Guten zu viel. Als "die Sonne eine Blutorange war, die sich an der ausgezackten Silhouette der Nürnberger Innenstadt zerquetschte und ihren Saft zwischen den Straßenschluchten des Bahnhofsviertels verströmte", zuckte ich beim Lesen zusammen. Ich könnte noch ein, zwei Stellen nennen, bei denen es mir ähnlich erging. Mancher Leser mag dies als fantasievolle Ausdrucksweise bezeichnen, mich hat es in jenen Momenten gestört. Nichtsdestotrotz habe ich die Sprache von Bernd Mittenzwei aufgrund ihres Wortwitzes sehr genossen. Über diese wenigen Momente der überbordenden Fantasie bin ich dann am Ende gern hinweg gegangen.

Fazit:
eine Geschichte voller Überraschungen
Charaktere, die mir ans Herz gewachsen sind
ein Autor mit einem Sprachstil zum Genießen, auch wenn es manchmal zuviel des Guten ist

© Renie