Rezension Rezension (4/5*) zu Der weiße Tiger von Aravind Adiga.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der weiße Tiger von Aravind Adiga
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What a fucking joke...

Balram - der 'weiße Tiger' - lebt in einem Dorf im Herzen Indiens. Der kluge, aber arme Junge hat keine Chance auf Aufstieg, bis er als er als Fahrer eines reichen Mannes nach Delhi kommt. Fasziniert beobachtet er, wie seinesgleichen, die Diener, vor allem aber ihre reichen Herren auf Jagd nach Alkohol, Mädchen und Macht gehen. Schnell ist sein Ziel klar: die Flucht aus dem Sklavendasein und hinein in ein freies Leben - auch wenn dieser Weg über Leichen führt. Eine amoralische Geschichte, anrührend und ohne jeden falschen Bollywood-Glamour.

Als Balram erfährt, dass der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in Indien geplant ist, beschließt er diesem einen langen Brief zu schreiben, damit der Eindruck vom Leben in Indien ein wahrer wird und nicht etwa von dem geschönten Protokoll für Staatsbesuche gezeichnet ist. Da Balram viel zu erzählen hat, wird es ein langer Brief, an dem er sieben Tage lang schreibt. Und dieser Brief umfasst letztlich auch den gesamten Roman.


"Offenbar sind Sie in China uns in jeder Hinsicht weit voraus, abgesehen von der Tatsache, dass Sie keine Unternehmer haben. Wohingegen unsere Nation zwar weder über Straßen noch über Trinkwasser, Strom, Kanalisation, öffentlichen Verkehr, einen Sinn für Hygiene, Disziplin, Höflichkeit oder Pünktlichkeit verfügt, aber über Tausende und Abertausende Unternehmer. Vor allem im Bereich Technologien. Diese Unternehmer – wir Unternehmer – haben Tausende von Outsourcing-Unternehmen gegründet, die inzwischen im Grunde ganz Amerika am Laufen halten."


Wer schon immer etwas über das Leben in Indien abseits der Bollywood-Welt wissen wollte, der ist bei diesem Debüt von Aravind Adiga genau richtig. Rückblickend wird hier der Aufstieg Balram Halwais aus großer ländlicher Armut zum verhältnismäßig wohlhabenden Besitzer eines Taxi-Unternehmens geschildert. Allerdings muss man darauf gefasst sein, hier schöpfkellenweise den Dreck auf den Teller geklatscht zu bekommen, und manchesmal erscheint die scharf gewürzte Mischung aus bitterbösen und schockierenden Szenen, Sarkasmus und schonungslosen Schilderungen allzu beklemmend und unverdaulich.


"Die Gefängnisse von Delhi sind voll von Fahrern, die dort hinter Gittern sitzen, weil sie die Schuld für ihre so guten und so soliden Mittelklasse-Herren übernommen haben. Wir mögen die Dörfer verlassen haben, aber unsere Herren besitzen uns noch – Körper, Seele und Arsch. […] Die Richter? Durchschauen sie diese so offensichtlich erzwungenen Geständnisse nicht? Aber sie sind doch selbst Teil der Betrügerei. Sie nehmen ihr Bestechungsgeld und überschauen die Unstimmigkeiten in dem Fall. Und das Leben geht weiter. Für jeden außer dem Fahrer."


Balram wird seit seiner Kindheit 'weißer Tiger' genannt, weil er seinerzeit dem Schulinspektor bei dessen Visite wegen seiner Klugheit gleich aufgefallen ist - was in Bangalore ebenso selten scheint wie ein weißer Tiger im Dschungel. Gerne schmückt sich Balram zeitlebens mit diesem Beinamen, macht er ihn doch zu etwas Besonderem - und eben das möchte Balram sein. Die Aussichten, in der Tradition seiner Kaste zu leben, der Kaste der Zuckerbäcker, allen anderen gegenüber unterwürfig, auch den Frauen der Familie, und neben harter Arbeit nur die Aussicht auf einen frühen Tod zu haben, behagen Balram gar nicht.

Geschickt nutzt er seine Klugheit, um erst an Wissen zu gelangen und schließlich das Spiel mitzuspielen. Als Diener im Teehaus bleibt er oftmals lange in der Nähe der Tische und belauscht die Gespräche der Gäste. So erfährt er einiges darüber, wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in Indien funktionieren und beschließt, sich dieses Wissen zunutze zu machen. Er wird Fahrer bei einem reichen Herrn und bekommt bald auch Einblick in dessen Geschäfte. Obwohl er seinem Herrn gegenüber eine große Loyalität verspürt, weiß Balram, dass es nur einen Weg für ihn geben kann, um aus dem ewigen 'Hühnerkäfig' auszubrechen.


"Alles was ich wollte war die Chance, ein Mann zu sein und dafür war ein Mord ausreichend."


So enttarnt Balram Halwai in seinem Brief sukzessive eine durch und durch korrupte Gesellschaft, die empörende Scheindemokratie Indiens, das zerrüttete Rechtssystem und die zynische Arroganz der Reichen, die ihr Vieh besser behandeln als ihre Dienerschaft. Es ist ein Buch, das die Augen öffnet. In jeder Hinsicht. Die Vielschichtigkeit der Geschichte, die hier nur angerissen werden kann (allein schon die Idee, diese Offenbarung von Indiens Korruptheit - gerade auch unter den Politikern - ausgerechnet an den chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao zu richten...), beschäftigt einen lange.

Jens Wawrczeck (bekannt u.a. durch die Hörpsielserie Die Drei ???) liest das 6 h 34 min lange Hörbuch gekonnt souverän und passt sich in seinem Vortrag hervorragend dem von Zynismus und Sarkasmus triefenden Text an.

Das Debüt erhielt gleich in dem Jahr seines Erscheinens den renommierten Man Booker Prize (2008).

Die Kombination der lockeren Erzählart mit kritischen Überlegungen zu Gesellschaft, Leben und Kultur in Indien verleihen dem Roman bei allem schwarzen Humor auch etwas Bissiges. Für mich eine überraschende Entdeckung!


© Parden

von: Katharina Peters
von: Eckart von Hirschhausen
von: Matthew Costello
 

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