Rezension Rezension (4/5*) zu Die Großmächtigen: Roman von Hédi Kaddour.

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.858
12.454
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Buchinformationen und Rezensionen zu Die Großmächtigen: Roman von Hédi Kaddour
Kaufen >
Aufeinanderprallen der Kulturen

Die Großmächtigen - damit sind in Hédi Kaddours gleichnamigen Roman die französischen Besatzer gemeint, die nach dem ersten Weltkrieg, Nordafrika unter ihr Protektorat gestellt haben. "Afrique du Nord" - zu diesem Teil Afrikas (auch Maghreb genannt) gehörten damals Algerien und Tunesien sowie Teile von Marokko und Libyen. Der Roman führt uns in die Stadt Nahbès, die in zwei Hälften geteilt ist: diejenige, der französischen Kolonialherren und diejenige, der "Eingeborenen". Eines Tages schlägt hier mit viel TamTam ein amerikanisches Filmteam auf, um einen Hollywoodstreifen zu drehen. Und schon ist die Welt von Nahbès in Unordnung geraten. Die Amerikaner benehmen sich, als ob ihnen die Welt gehört. Die Franzosen scheinen eine angeborene Aversion gegen Amerikaner zu haben. Und die meisten Maghrebiner lehnen generell alles ab, was nicht der wahren Religion angehört.
Im Verlauf der ersten hundert Seiten kristallisieren sich einige Charaktere als Hauptprotagonisten heraus:
Raouf - Sohn eines maghrebinischen Oberen, der eine französische Schulausbildung genossen hat und daher sowohl in der orientalen als auch der westlichen Kultur zuhause ist.
Seine Kusine Rania, verwitwet, die es geschafft hat, sich eine Nische in der von Männern dominierten Kultur zu schaffen, in der sie ein geringes Maß an Selbstbestimmung erlangen konnte.
Kathryn, amerikanische Schauspielerin, verheiratet, die sich an den deutlich jüngeren Raouf heranschmeißt.
Die Pariser Journalistin Gabrielle sowie der Kolonialist Ganthier, der sich ein Leben in Nahbès aufgebaut hat.

Nach 6 Monaten bricht die Filmcrew zunächst einmal ihre Zelte ab, um nach ein paar Monaten wiederzukommen und die Dreharbeiten fortzusetzen.

"Raouf hatte verstanden, David Chemla, sein Jugendfreund, hatte recht, sobald man diesen Amerikanern nicht nach der Pfeife tanzte, ließen sie einen stehen, das war Kapitalismus in seiner ganzen Überheblichkeit." (S. 31)

In der Zwischenzeit verlagert sich die Handlung nach Europa und konzentriert sich dabei auf Raouf und Kathryn sowie Ganthier und Gabrielle. Die vier reisen durch das kriegsgebeutelte Europa. Der erste Weltkrieg ist gerade beendet, der nächste Weltkrieg steht bereits vor der Tür. Die Sieger des Krieges feiern sich, die Verlierer leiden und werden "bestraft". Im Großen sind es Reparationszahlungen, die zu leisten sind, im Kleinen sind es Verachtung und Schikanen der Sieger gegenüber den Menschen der Verlierernationen. Dem Leser zeigt sich das Bild eines zerrissenen Europas, ein guter Nährboden für Hitlers Gedankengut, der bereits als zukünftiger Machthaber in den Startlöchern steht.
Am Ende werden die vier Protagonisten wieder nach Nordafrika zurückgehen. Doch auch hier befindet sich die politische Situation im Wandel. Denn die Großmächtigen bleiben nicht ewig großmächtig.

"Manchmal lachen Menschen beim Arbeiten, ein Zeichen dafür, dass das Elend nicht gewonnen hat, ... wenn sie lachen, spüren sie dass die Welt besser sein könnte, und dann bekommen sie vielleicht Lust, sie zu verändern." (s. 219 f.)

Hédi Kaddour schildert hier eine Epoche, die die eigentliche Hauptrolle in diesem Roman spielt: die Franzosen als Besatzungsmacht in Nordafrika, unter dem Einfluss der 2 Weltkriege. Er spart dabei nicht mit Humor. Nicht nur Franzosen und Amerikaner bekommen hier ihr Fett weg. Auch die einheimische Bevölkerung Nordafrikas wird mit sämtlichen Klischees, was die arabische Kultur angeht, versorgt. Viel Potenzial zur Komik bietet dabei das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Kulturen.
Der Sprachstil des Autors ist dabei gewöhnungsbedürftig. Hédi Kaddour scheint ein Freund von laaangen Sätzen zu sein. Hier werden Nebensätze in rekordverdächtiger Länge aneinandergereiht. 2-Zeiler sind da eher die Ausnahme.
Und trotzdem hat mir sein Sprachstil gefallen. Denn der Autor schreibt sehr bildhaft. Insbesondere diejenigen Passagen, die die islamischen Zeitgenossen behandeln, erinnern ein bisschen an 1001 Nacht.

Fazit:
Ein Lesevergnügen, das mich in eine Epoche zurückversetzt, der ich bisher nur wenig Beachtung geschenkt habe. Ich mag Bücher, die einen geschichtlichen Hintergrund haben und dabei noch viel Humor an den Tag legen. Bei "Die Großmächtigen" bin ich voll auf meine Kosten gekommen.

© Renie