Rezension Rezension (4/5*) zu Jakobs Mantel: Roman von Eva Weaver.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Jakobs Mantel: Roman von Eva Weaver
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Der Puppenspieler von Warschau...

Gerade einmal 14 Jahre alt ist Mika, als sich die Pforten des Warschauer Ghettos im Jahr 1940 hinter ihm, seiner Mutter und seinem Großvater Jakob schließen. Zusammengepfercht auf engstem Raum, hausen sie fortan mit tausenden anderer Juden in einem kleinen Stadtteil Warschaus und sind den laufenden Repressalien durch die Deutschen ausgesetzt, dem nagenden Hunger, der Angst. Als Mikas Großvater willkürlich auf offener Straße erschossen wird, bricht die Welt des Jungen zusammen. Sein Großvater war für ihn sein engster Vertrauter, seine Sicherheit, der Mensch, der ihm trotz allem Hoffnung vermitteln konnte.

In seiner großen Trauer macht sich Mika in der winzigen Wohnung auf die Suche nach den Spuren seines Großvaters, und tatsächlich entdeckt er in dessen Mantel eine Unzahl an geheimen Taschen, die allerlei Schätze in sich tragen. Und er stößt auf eine kleine, selbstgefertigte Handpuppe, einen Prinzen mit einer winzigen Krone, leuchtenden Apfelbäckchen und einem fellbesetzten Kragen an seinem Umhang. Als Mikas Hand in die Puppe schlüpft, scheint diese zum Leben zu erwachen und dem Jungen Mut zuzusprechen. In Mika reift ein Entschluss: er will das Werk seines Großvaters fortführen. Uns so entsteht aus zusammengeklaubten Materialien eine Puppe nach der anderen, die alle einen Platz in den Tiefen der geheimen Taschen von Jakobs Mantel finden, ohne den Mika nun nirgendwo mehr hingeht.

Unter Mikas Händen und denen seiner Cousine Elli werden die Puppen lebendig, und Mikas Talent als Puppenspieler spricht sich schon bald herum. Immer wieder gibt es Anfragen mit der Bitte um eine Vorführung, als Belohung winkt ein kostbares Stück Brot und manchmal sogar ein Glas himmlischsüßer Erdbeermarmelade. Aus den Taschen seines Mantels zaubert Mika immer neue Puppen hervor und bringt damit so manches hoffnungslose Kindergesicht wieder zum Strahlen. Doch sein Talent wird auch von den Deutschen registriert, und plötzlich ist Mika gezwungen, vor seinen Peinigern zu spielen - um sein Leben. Immer wieder wird er auf die arische Seite geführt, erträgt die Pöbeleien der Soldaten, hofft auf ihr Lachen, wenn sein Stück beginnt. Als Lohn winkt ein ganzer Laib Brot, manchmal auch etwas mehr, aber Mika fühlt sich als Verräter an seinen Leidensgenossen. Dies ändert sich, als er gebeten wird, unter seinem riesigen Mantel Kinder aus dem Ghetto herauszuschmuggeln...


"Ich weiß, es ist schwer, daran zu denken, wenn wir alle ständig hungrig sind, doch wir dürfen die Kraft der Musik und deiner Puppen nicht vergessen." - "Ja, aber Musik und Puppen lassen sich nicht essen. Was für einen Nutzen haben sie am Ende?" - Er sah mich mit seinen durchdringenden Augen an und legte seine warme Hand auf meine Schulter. "Mein Junge, wenn es Menschen wie dich nicht gäbe, hätten die Deutschen bereits gewonnen und uns an den Stellen geschlagen, auf die es ankommt." (S. 86 f.)


In drei Teile ist das Buch untergliedert, und Mikas unsägliche Geschichte im Warschauer Ghetto umfasst den ersten und größten Teil des Romans. Verbunden werden die Teile durch die Handpuppe des Prinzen, der nicht bei Mika bleibt, sondern in die Tasche eines seiner Peiniger wandert, mit diesem in russische Gefangenschaft gerät und nach Sibirien deportiert wird. Der Leser wird Zeuge, wie dieser deutsche Soldat mit hunderten anderer Uniformierter in eben die Viehwagen gepfercht wird, die vordem jüdische Gefangene in die Konzentrationslager brachten. Unmenschliche Bedingungen erwarten die einst so stolzen Soldaten, harte Arbeit, wenig Essen und die ewige Kälte. Aber haben sie nicht eben dieses verdient, sinniert der neue Besitzer der Prinzenpuppe, haben sie nicht genau dies Tausenden von Juden angetan - und Schlimmeres? Die Flucht des Soldaten aus dem Lager in Sibirien wird geschildert, die lange, entbehrungsreiche Odyssee seiner dreijährigen Wanderung durch die unwirtlichen Weiten Russlands, die Heimkehr, das Fremdsein, die ewige Schuld.

Eva Weaver thematisiert hier nicht nur die Grauen des Holocaust und das Überleben nach dem jahrelangen Trauma, nach der Entwurzelung, nach der ewigen Hoffnungslosigkeit, sondern eben auch die 'andere' Seite, die Seite der Täter, die kleinen Räder der Vernichtungsmaschinerie, den Umgang mit der Schuld. Ich gebe zu, dass mich dieser Perspektivwechsel im zweiten Teil zunächst sehr gestört hat - ich wollte keine menschliche Seite der Täter sehen, nicht nach den grauenvollen Bildern und Szenen des ersten Teils. Und doch begriff ich mit jeder Seite mehr, dass die beiden Pole des Holocausts, der der Opfer und der der Täter, untrennbar miteinander verknüpft sind, und dass auch das Leben mit der Schuld ein kaum zu leistendes sein kann.

In die fiktive Handlung hat Eva Weaver zahllose Berichte von Zeitzeugen eingewebt, und auch reale Figuren finden hier Eingang, so wie der Kinderarzt Janusz Korczak, der im Warschauer Ghetto ein Waisenhaus leitete und sich mit seinen zweihundert Schützlingen nach Treblinka deportieren ließ, obwohl er hätte freikommen können. Insofern ist der Autorin ein authentisches Bild der Ereignisse zu Zeiten der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg gelungen, auch wenn manche der in der Erzählung geschilderten Details mir wenig vorstellbar erschienen.

Insgesamt ein Roman, der gerade auch jüngeren Lesern ein eindringliches Bild nicht nur des Holocaust vermitteln kann, sondern sich ebenfalls mit der Schuld der Täter beschäftigt. Empfohlen wird der Roman ab 12 Jahren, doch sollte die Lektüre m.E. in dem Alter noch begleitet stattfinden. Ein Buch 'Gegen das Vergessen', das auch von Hoffnung zeugt, von der Macht der Poesie, vom Mut zum Widerstand - und von Annäherung.


© Parden

 

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