Rezension Rezension (4/5*) zu Ali und Nino von Kurban Said.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ali und Nino von Kurban Said
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Utopie des möglichen Zusammenlebens

Kurban Said ist der Autor des Romans „Ali und Nino“, der im Jahr 1937 erstmals erschien und 2016 erneut im Ullstein Verlag in einer wunderschön gestalteten Neuauflage erschienen ist. Und doch ist er es nicht, denn dieser Kurban Said existierte gar nicht. „Kurban Said“ ist nur der wohl bewusst gewählte östlich klingende Name, der das Pseudonym eines westlichen Autorenduos - Elfriede von Ehrenfels und Lev Nussimbaum - ist. Diese beiden haben Anfang des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit, einen ausführlichen Blick in die Gesellschaft des damals östlichsten Teils der westlich regierten Welt zu werfen: den „Balkon Europas", die "Brücke zwischen Ost und West". Und das ist die Stadt Baku am Kaspischen Meer, gelegen im heutigen Aserbajdschan.
Ich hatte die Chance, diesen Roman in einer großen Leserunde bei Whatchareading zu lesen und habe diese Lektüre sehr genossen und einige wichtige Ideen und Anregungen daraus erhalten. Gleichzeitig hat aber die Leserunde auch sehr interessante Differenzen aufgezeigt bei den Lesern und Leserinnen, bis hin zum einigermaßen wütenden Abwenden von der Lektüre bei Einigen.
Was das Autorenduo im östlichen Europa damals vorfindet, ist geprägt von den Differenzen zwischen Islam und Christentum, zwischen westlicher und östlicher Philosophie und Lebensweise und den Versuchen, mit diesen Differenzen umzugehen.
Der Titel des Romans „Ali und Nino“ setzt den Leser auf die Fährte, hier auf eine Liebesgeschichte im west-östlichen Ambiente zu stoßen. Doch damit würde man dem Roman nicht wirklich ausreichend gerecht werden.
Ali, der männliche Teil des Liebespaares, steht in der Personenkonstellation des Romans für das östlich und islamisch geprägte Personal. Und gerade aus unserer heutigen Sichtweise sind viele seiner Ansichten und Lebenseinstellungen, insbesondere zu Frauen und zum Krieg, mehr als kritisch zu beurteilen. Die Vermittlung dieser Lebenssicht durch das Autorenduo in ihrem Roman allerdings sehe ich sehr pragmatisch und realistisch. Der Roman ist gerichtet an ein westlich geprägtes Publikum, das auskommen muss ohne die modernen Informationsmedien und Reisemöglichkeiten der heutigen Zeit. Für dieses Publikum war es sicher sehr neu und erhellend, dieses Denken des Ostteils ihrer Welt anschaulich vor Augen geführt zu bekommen. Welchen Grund hätten die Autoren haben sollen, diese Sichtweise, die ihnen bei ihrem Aufenthalt im Osten vielleicht selber böse aufgestoßen ist, zu relativieren und zu bewerten? Von daher kann ich die Kritik einiger der Teilnehmer in der Leserunde nicht nachvollziehen, nach der die kritischen Ansichten eines der Romanprotagonisten den Autoren und dem Roman selbst angelastet zu werden scheint.
Vielmehr rechne ich es den Autoren hoch an, dass sie in dem Roman die positive Utopie schildern, nach der im Baku dieser Zeit, das in ihrer Interpretation geprägt wurde von beiden Lebensmodellen, das Zusammenleben möglich und relativ unproblematisch war.
Ali und Nino sind in ihrem Denken und Leben und in ihrer Geschichte sehr weit voneinander entfernt. Und doch treffen sich schon früh ihre Lebenswege, sie verlieben sich schon als Kinder ineinander und können ohne Widerstand der Eltern heiraten und sich ein gemeinsames Leben aufbauen.
Interessant sind die im Roman geschilderten beiden Gegenentwürfe der Städte Tbilissi bzw. Teheran und Baku, wobei Tbilissi als komplett westlich/Teheran als komplett östlich angesehen wird und Baku dagegen als Brückenkopf zwischen West und Ost . Und darin wird auch die Besonderheit Bakus gesehen:

<I><B> "Die Magie dieser Stadt liegt in der mystischen Verbundenheit ihrer Rassen und Völker." </I></B>

Das Zusammenleben von Ali und Nino gelingt ohne große Probleme und Konflikte, solange sie sich in diesem Kosmos der Verbundenheit befinden: in Baku und in einen abgelegenen Bergdorf des Kaukasus. Es wird aber sofort zum Problem, wenn das Miteinander und Nebeneinander zweier Welten von der Umwelt nicht mehr akzeptiert wird, sondern absolute Wahrheit der einen Seite gelebt und gefordert wird. Das ist im Iran der Fall, wo Nino zu einem Leben im Harem gezwungen wird, genauso wie in Tbilissi, wo Ali sich mehr als unwohl fühlt.

<I><B> "Ich, deine Nino, bin doch auch ein ganz winziges Stück von dem Europa, das du haßt, und hier in Tiflis fühle ich das besonders deutlich. Ich liebe dich, und du liebst mich. Aber ich liebe Wälder und Wiesen, und du Berge und Steine und Sand, weil du ein Kind der Wüste bist. Und deshalb fürchte ich mich vor dir, vor deiner Liebe, vor deiner Welt." </I></B>

Und so begleiten wir Ali und Nino durch eine lange Phase ihres Lebens, in der sie immer wieder von der Geschichte eingeholt werden: dem erste Weltkrieg, dem Zusammenfall des osmanischen Reiches, der russischen Revolution. Und wir erhalten dabei einen Einblick in die abgelegene Welt des östlichen Randes der westlichen Welt zum Beginn des letzten Jahrhunderts.

Ein besonderes Plus des Romans im Ullsteinverlag ist das wunderschöne Nachwort von Nino Haratischwili. Die georgische Autorin spricht hier von Baku in der Darstellung des Romans nicht nur als Ort, sondern als einer Vision, als einer Möglichkeit, Widersprüche aufzulösen.

<I><B> "Dafür braucht es den Raum, die Freiheit, die Selbstbestimmung der Menschen. Es braucht vor allem kein blindes Festhalten an irgendeiner nationalen Identität, die vorgibt über anderen Individuen zu stehen und sich am Ende doch stets als ein Machtinstrument entpuppt, eingesetzt im Interesse Weniger - gegen Tausende und Abertausende." </I></B>

Fazit:

Dieses Thema als zentrale Idee des Buches macht für mich tatsächlich seinen Reiz und Wert aus: Die Liebenden Ali und Nino lebten in wahrhaft utopischen Zeiten.
Es hat für mich etwas gedauert, bis ich richtig angenommen habe, dass es hier nicht wirklich um eine Liebesgeschichte geht. Dann aber habe ich mich darauf eingelassen, dass der Roman einen sehr viel stärker als gedacht dokumentarischen Inhalt hat. Zwei Menschen aus dem Westen, die das Privileg hatten, in einem besonderen Zeitfenster in dieser fernen Welt zu leben, versuchen auf unterhaltsame Art dem westlichen Publikum einen Einblick in diese besondere Situation zu geben. Die Utopie des möglichen Zusammenlebens in Verschiedenheit haben sie vor Ort im Kaukasus kennen gelernt und versuchen in dem Buch, dieses dem westlichen Publikum zu vermitteln. Wohlgemerkt einem Publikum, das in Europa ebenfalls auf engem Raum mit Verschiedenheit umzugehen hat und wo das gerade zu den Zeiten des Erscheinens des Buches so überhaupt nicht funktioniert.
Ich liebe diesen utopischen Zug des Buches, der uns vermitteln will: es gibt die Freiheit, sich nicht entscheiden zu müssen zwischen Ost und West, sondern sich genau über diese Vielfalt definieren zu können.
Wann wäre diese Utopie aktueller gewesen als gerade heute.
Und auch wenn diese Utopie vermutlich etwas naiv ist und auch im Roman etwas naiv daherkommt, ist es für mich eine wichtige Botschaft, für die ich den Roman gerne gelesen habe und auch gern zum Lesen weiterempfehlen kann.



von: R. Clifton Spargo
von: Birgit Vanderbeke
von: Dennis Lehane
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich gehörte auch der erwähnten Leserunde an und habe das Buch gerne gelesen.
@Anjuta: du hast in dieser Rezension noch einmal die wesentlichen, über den eigentlichen Inhalt des Buches hinausgehenden, Gedanken zusammengefasst. Das hat mir sehr gut gefallen! Das ist das, was von einer guten Lektüre übrig bleibt.

Wahrscheinlich ist das der Punkt: dass die Autoren nicht nur unterhalten wollten, sondern auch etwas von der Problematik des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen aufzeigen. Diese Problematik gab und gibt es zu allen Zeiten. Das macht den Roman zeitlos und auf alle Fälle lesenswert!
 

Anjuta

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Liebe @Literaturhexle , ja ich glaube es hat sich schon während der Leserunde gezeigt, dass wir einen ähnlichen Zugang zu dem Buch hatten/haben. Danke nochmal für die heutige Bestätigung. Ich werde mir in Zukunft deine Beiträge besonders intensiv anschauen und hoffe auf gute Lektüretipps.
Anjuta
 
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