Rezension Rezension (5/5*) zu Das Herz der verlorenen Dinge von Tad Williams.

Sebastian

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18. April 2014
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Ostharingen, Niedersachsen, Germany
Buchinformationen und Rezensionen zu Das Herz der verlorenen Dinge von Tad Williams
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In meinen Augen besser als Martin

Tad Williams war mir bislang nur durch seine (sehr gelungene) Urban-Fantasy-Reihe um den Seelenanwalt Bobby Dollar ein Begriff. Klar, ich wusste, dass er sich einen Namen mit seinen High-Fantasy-Romanen gemacht hat. Gelesen hatte ich bislang aber keinen. Man tut sich halt schwer damit, spät in Reihen einzusteigen. Mit »Das Herz der verlorenen Dinge« verspricht Klett-Cotta einen Osten-Ard-Roman, der den Neueinstieg in die Welt von Osten Ard erleichtern und zugleich als Appetizer auf den im August erscheinenden Start der eigentlichen Fortsetzung zu »Das Geheimnis der großen Schwerter« dienen soll. Dann mal ran.

Gleich zu Beginn möchte ich sagen, dass ich diesen Punkt »für Neueinsteiger geeignet« nur bedingt unterzeichnen würde. Ja, »Das Herz der verlorenen Dinge« erzählt eine in sich geschlossene Geschichte und setzt Vorwissen nicht zwangsläufig voraus. Auf der anderen Seite hat das Buch aber auch (wie mir scheint) sehr viele Bezüge auf Williams’ abgeschlossenes Epos. Bei mir ist dadurch immer wieder der Eindruck entstanden, etwas Wesentliches verpasst zu haben. Das ist ärgerlich, denn wenn von einem Neueinstieg die Rede ist, erwarte ich für mich persönlich, dass dieses Gefühl nicht entsteht. Aber nun ja, man gibt sich dennoch unvoreingenommen. Und das funktioniert gut. Wie bereits erwähnt erzählt der Roman eine in sich abgeschlossene Geschichte abseits der in der Fantasy mittlerweile reichlich durchgenudelten Heldenreise. Williams bewegt sich irgendwo zwischen Chronik, groß angelegten Schlachten und mehreren Einzelschicksalen. Speziell diese sind nicht nach dem einfachen Schema »X muss Y tun, um Z zu retten« angelegt. Vielmehr sind es Geschichten, in denen es sich viel um das zentrale Thema »Gut und Böse« dreht, ohne dabei aber schlicht auf Schwarz/weiß-Malerei zu setzen. Richtig und falsch sind bei Williams in erster Linie eine Frage des Standpunkts. Das ist der Story sehr zuträglich, da man es nicht einfach mit Helden und Schurken zu tun bekommt. Man muss sich umfassender mit Motivationen und Beweggründen beschäftigen. Das weiß zu gefallen. Einhergehend mit einem angenehmen Spannungsbogen und einer intensiven, dichten Atmosphäre wird »Das Herz der verlorenen Dinge« schnell zu einem sehr unterhaltsamen Fantasy-Roman.

Auch in Hinsicht auf die Figuren kann sich Williams vom Genrestandard absetzen. Natürlich bietet auch sein aktueller Roman manch klassischen und fast schon klischeehaften Charakter. Insgesamt sind sie aber ziemlich eigenständig ausgefallen und meiden das Einerlei, welches man bei vielen Mitbewerbern findet. Auch hier schlägt sich natürlich die Standpunktfrage stark nieder und sorgt am Ende schließlich dafür, dass man kaum von Helden und Antagonisten sprechen kann. Die Geschichte vermittelt ein gutes Gefühl für die Motivationen der einzelnen Akteure, sodass man früh ins Nachdenken gerät. Was ist richtig, was ist falsch? Was treibt die jeweilige Figur an? Und warum verdammt noch mal kann ich absolut nachvollziehen, was sie macht? Man sieht, »Das Herz der verlorenen Dinge« ermöglicht es dem Leser ohne Probleme, in die Gedankenwelt seiner Figuren einzutauchen und sich ohne Glaubwürdigkeit einzubüßen zu einem gewissen Grad mit den meisten von ihnen identifizieren zu können. Und das ist großes Kino.

Ähnliches gilt für Williams Schreibstil. Natürlich ist es genretypisch hier und da etwas ausschweifend und schwülstig, aber mal ehrlich: Genau diese Erwartung hat man an einen High-Fantasy-Roman. Es wirkt in jedem Fall stimmig und ergeht sich nicht zu sehr in einer verschwurbselten Sprechweise. Gerade so, dass es authentisch, aber nicht zu aufdringlich wird. Davon abgesehen ist »Das Herz der verlorenen Dinge« temporeich ausgefallen, ohne schlicht von Schlacht zu Schlacht zu stolpern und diese bis ins letzte Detail auszuleben. Es ist genug, um auch Actionfreunden ein paar Schauwerte zu bieten, im Vordergrund steht aber immer die Geschichte als solche. Als Übersetzerin war Cornelia Holfelder-von der Tann tätig. Sie hat einige Erfahrung mit Williams’ Werken und somit ist auch diese deutsche Ausgabe wieder rund, flüssig und stilblütenfrei.

Fazit:

Eigentlich würde »Das Herz der verlorenen Dinge« von mir eine uneingeschränkte Leseempfehlung für Fantasy-Fans sein. Handwerklich stimmt von vorn bis hinten alles. Die Figuren sind toll ausgearbeitet und bedienen die gängigen Fantasyklischees nur selten. Die Geschichte hat genau das richtige Tempo, einen tollen Spannungsbogen und lässt den Leser geschickt spüren, dass man auch in der High Fantasy nicht immer von Gut und Böse sprechen kann. Warum also nur 9 Punkte? Wegen dem Gefühl, etwas verpasst zu haben. Wer Williams aktuelles Werk vollumfänglich genießen möchte, sollte sich eine gute Basis schaffen und sich »Das Geheimnis der großen Schwerter« vorher draufpacken. Ich muss erstmal nachholen und freue mich bis dahin auf den August und »Die Hexenholzkrone«.