Rezension Rezension (4/5*) zu Mein bester letzter Sommer: Roman von Anne Freytag.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Buchinformationen und Rezensionen zu Mein bester letzter Sommer von Anne Freytag
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Zeit ist das Kostbarste, was wir haben...


Tessa ist eine hübsche, begabte Siebzehnjährige, der alles im Leben immer zuflog. Eine Einserschülerin in der Schule, eine talentierte Klavierschülerin, ein Stipendium in Oxford. Das Leben wäre perfekt - wenn Tessa nicht sterben müsste. Vor einigen Wochen hat sie erfahren, dass es keine Aussicht auf Heilung mehr gibt, und seither verkriecht sich Tessa in ihr Zimmer, wenn sie nicht gerade wieder zu einer Untersuchung muss.


"Ich habe immer gewartet - wie es sich jezt herausstellt zu lange. Auf die Liebe, auf das Leben (...) Ich wollte den perfekten Augenblick, und vielleicht ist es an der Zeit einzusehen, dass ich ihn verpasst habe (...) Mein gesamtes Leben bestand aus dem ersten Gang, weil ich irgendwie dachte, dass ich für den zweiten noch genug Zeit habe."


Auf dem Weg zum Arzt begegnen Tessas Blicke in der Bahn eines Tages denen eines Jungen in ihrem Alter. Das Mächen fühlt sich unglaublich hingezogen zu dem Fremden, doch es ist voll in der Bahn, und ihnen bleiben nur ihre Blicke und ihr Lächeln, die sie nicht mehr voneinander lösen können - bis Tessa aussteigen muss. Wieder etwas, das der Siebzehnjährigen nicht vergönnt zu sein scheint. Aber dann steht eben dieser Junge einige Tage darauf plötzlich vor ihr, unerwartet, für beide ein Schock - und doch ist da gleich wieder die Faszination füreinander, das Hingezogensein zueinander, das Versinken in den Augen des anderen.


"Das Leben wird nicht definiert von den Momenten, in denen du atmest, sondern von denen, die dir den Atem rauben."


Oskar heißt der Junge aus der Bahn, der Tessa immer wieder aufs Neue den Atem raubt - und sie ihm. Doch darf eine Liebe unter diesen Vorzeichen sein? Eine Liebe, die keine Zukunft hat? Oskar kämpft um diese Liebe, und auch als er erfährt, dass ihm und Tessa nur noch einige Wochen bleiben, bleibt er bei ihr. Er kann ihr nicht mehr Zeit schenken, aber Momente, die alles bedeuten können. Oskar geht mit Tessa auf eine Reise - ihre letzte in ihrem letzten Sommer. Ihre Eltern lassen sie schließlich gehen, denn es ist ihr Leben, und davon bleibt nicht mehr viel. Italien heißt das Ziel der Reise, und Oskar und Tessa leben dort ihren Traum.


"Noch vor ein paar Wochen habe ich nur an die Zeit gedacht, die ich nicht bekommen werde. An die vielen Jahre, die ich verdient hätte, und an all die Träume, die sich nie erfüllen werden. Ich habe immer noch zu wenig Zeit, aber ich bin froh, ihr noch eine Bedeutung geben zu können. Ich bin froh, dass es noch nicht zu spät ist. Was auch passiert, morgen beginnt ein neues Leben. Ein neuer Abschnitt. Und es wird mein letzter sein."


Eine Liebesgeschichte ohne Happy End? Geht das überhaupt? Ja, das geht, wie Anne Freytag hier beweist. All die Gefühle einer jungen Liebe sind da, vielleicht noch intensiver als bei anderen Paaren, die von einer Begrenztheit der Zeit nichts ahnen. Die Neugierde aufeinander, die Gefühlsexplosionen, die Unsicherheit, das Entdecken des anderen - all dies liegt da zwischen den beiden Buchdeckeln. Die Bedeutung des Augenblicks jedoch ist hier eine andere, eine intensivere als in anderen Liebesgeschichten.


"Wir alle haben zwei Leben. Das zweite beginnt, wenn wir realisieren, dass wir nur eines haben."


Erzählt wird größtenteils aus der Perspektive Tessas, im letzten Drittel jedoch immer wieder auch aus der von Oskar. Dieser Schachzug hat mir gut gefallen, denn natürlich ist Tessa diejenige, deren Lebenserwartung begrenzt ist - aber die Menschen, die sie lieben, sind ebenso von dem vernichtenden Urteil der Ärzte betroffen. Welch eine nahezu unmenschliche Aufgabe Oskar da übernommen hat, mit Tessa zu verreisen und ihre Liebe zu leben, bis der Tod dem ein Ende setzt, wird deutlich in den Abschnitten, die einen Einblick in Oskars Gefühlswelt gewähren. Sehr berührend, ebenso wie Tessas Erzählung.


"Wir schweben in einer Seifenblase, von der wir genau wissen, dass sie schon sehr bald platzen wird. Aber noch ist sie da. Noch umgibt sie uns wie eine schützende Haut. Im Hier und Jetzt bin ich glücklich. Unbschreiblich glücklich. Und ich kann nicht aufhören zu lächeln."


Tessa wirkte auf mich nicht auf Anhieb sympathisch, und auch wenn ich ihr Schicksal bedauerlich fand, gab es für mich persönlich in der ersten Hälfte des Buches doch ein Zuviel an Wut und Selbstmitleid, auch wenn mir klar ist, dass diese Empfindungen bei der Aussicht, nur noch einige Wochen zu leben, nachvollziehbar sind. Die Entwicklung, die Oskar und sie im Verlaufe ihres Roadtrips durchliefen, hat mir dagegen sehr gut gefallen - und wieder einmal aufgezeigt, dass auch oder vielleicht gerade bei einer zeitlich begrenzten Lebensdauer das JA zum Leben großartig ausfallen kann.


"Ich dachte, ich gehe als unbeschriebenes Blatt, aber das werde ich nicht. Oskar hat Spuren hinterlassen. Seine Gefühle in meinem Herzen, seine Stimme in meinem Kopf und seine Hände auf meiner Haut. Ich glaube, ich habe es verstanden. Liebe ist genug. Und ich wurde geliebt."


Die Lieder, die die beiden auf ihrer Reise durch Italien gehört haben, gibt es als Playlist am Ende des Buches noch einmal zusammengestellt - und manche davon habe ich mir auch angehört, was für mich eine schöne Ergänzung beim Lesen war, da die Songs die jeweiligen Stimmungslagen sehr gut widerspiegelten.

Eine süßtraurige Liebesgeschichte, ein ganz besonderer Roadtrip, ein Jugendbuch, das Lächeln und Tränen einen gleichwertigen Platz einräumt. Mich hat das Buch berührt.


© Parden