Rezension Rezension (5/5*) zu Neunundneunzig Namen von Jens-Michael Volckmann

Renie

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19. Mai 2014
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renies-lesetagebuch.blogspot.de
Als Blogger freut man sich immer wieder, wenn man auf tolle Geschichten und Talente abseits der Bestseller-Listen stößt. Eine wahre Quelle unerschöpflicher Schreiblust ist anscheinend eine Autorengruppe, die sich unter der Bezeichnung #bartbroauthors auf Twitter tummelt. Andreas Hagemann, der Autor der Fantasy-Reihe "Xerubian" (und mittlerweile Bartträger) hat mich darauf gebracht. Danke für den Tipp!
Eine Gruppe Bart-tragender Autoren, wobei das mit dem Bart wohl ein Witz ist. Angeklebte Bärte gehen auch, der eine oder andere Damenbart wird wohl auch vorhanden sein. Aber eines haben sie - ob mit oder ohne Bart - gemeinsam. Alle sind Schriftsteller mit Spaß und Leidenschaft. Da ich mich gerade im Urlaub befand und Lesezeit wie noch nie zur Verfügung hatte, habe ich mich ein wenig durch die Twitter-Posts dieser Gruppe geklickt. Und auf den ersten Blick muss ich sagen, "Hut ab". Da ist doch einiges dabei, was in mein Beuteschema passt. Aber spontan bin ich bei einer Erzählung hängengeblieben. Mir ist die Aktualität des Themas aufgefallen. Ich habe noch nichts gelesen, dass dermaßen zu den Anschlägen im Juli in München passt und den aktuellen Zeitgeist in unserer Medienlandschaft widerspiegelt. Daher ist meine Wahl auf diese Erzählung gefallen:


Neunundneunzig Namen von Jens-Michael Volckmann

Die Geschichte ist schnell erzählt: Über Frankfurt/M. stürzt ein Passagierflugzeug ab. Ein ganzer Stadtteil wird verwüstet. Tausende von Tote sind zu beklagen. Im Internet taucht ein Mitschnitt aus dem Cockpit im Moment des Absturzes auf. Die letzten Worte, die zu vernehmen sind, ist das „Allahu Akbar“ eines Passagiers. Alles deutet auf einen terroristischen Anschlag hin. Die Sachlage scheint eindeutig zu sein. Dem Leser ist jedoch schnell klar, dass nichts ist, wie es scheint, zumal auch der Verdacht auf einen terroristischen Anschlag schnell entkräftet wird. Der Absturz ist auf technisches Versagen zurückzuführen. Doch irgendwie zweifelt man doch. Denn der Autor Jens-Michael Volckmann legt ganz fiese Fährten aus, die darauf hindeuten, dass die islamistische Terroristenwelt doch ihre Hände im Spiel hatte.

"Das Fernsehbild wird schwarz. Nur noch die Aufzeichnung ist zu hören. Da sind der dumpfe Schlag gegen die Tür und dann die dunkle Stimme, die zwei Wörter ruft: "Allahu Akbar!"

Die Erzählung reißt den Leser von Anfang an mit. Die Spannung ist unglaublich hoch. Jens-Michael Volckmann hat für seine Geschichte einen ungewöhnlichen Aufbau gewählt: er erzählt in mehreren ständig wechselnden Zeitebenen.

Der Tag des Absturzes: Die Geschichte wird aus der Sicht des mutmaßlichen Täters und dessen Bruder, einem angesehenen Iman aus Köln erzählt. Die beiden geben akribisch die Vorkommnisse am Tag des Absturzes wieder.

Die Wochen nach dem Absturz, in denen unter Anderem eine Fernsehtalkshow live ausgestrahlt wird. Teilnehmer dieser Talkshow sind eine Überlebende des Absturzes, Politiker sowie wieder der Bruder des angeblichen Attentäters. Man fühlt sich an Sendeformate wie „Hart aber fair“ oder „Anne Will“ erinnert. Die Medienwelt hat ihr Urteil bereits gefällt. Wider jeglicher Vernunft hat die Öffentlichkeit ihren Schuldigen gefunden. Die falsche Schlagzeile im richtigen Moment und schon ist der gemeinsame Feind identifiziert: der Islam.

Ein Jahr nach dem Absturz wird ein Dokumentarfilm ausgestrahlt, der sich mit der tatsächlichen Aufklärung befasst. Neben diversen Zeugen, kommt auch hier der Bruder wieder zu Wort und dem Leser wird schnell bewusst, dass es nicht bei den Opfern des Absturzes geblieben ist. Die manipulative Berichterstattung hat ihr Übriges geleistet. Brennende Moscheen gehören auf einmal zum Nachrichtenalltag dazu.

"'Al-Malik hat ganz klar und deutlich 'Allahu Akbar' gerufen. Wie viele Beweise benötigen Sie denn noch, um sich einzugestehen, dass er ein fanatischer Gotteskrieger war, der mehr als 1200 unschuldige Menschen mit in den Tod gerissen hat.' Das Publikum auf den dunklen Zuschauerrängen applaudiert."

Ich habe diese Erzählung zufällig an dem Tag gelesen, als sich der „islamistische“ 18-jährige Attentäter, der in einem Münchner Einkaufszentrum um sich geschossen hat, als Rechtsradikaler entpuppte, und das nach mehr als einer Woche Ermittlungsarbeit. In dieser Woche stand für Deutschland fest, dass der Terrorismus des IS in Deutschland angekommen ist. Und es bedurfte nur einer Videoaufnahme des Täters, wie er auf einem Parkhausdach angeblich islamistische Äußerungen von sich gab. Der Fall war glasklar. Das allgemeine Misstrauen gegenüber unseren muslimischen Mitbürgern wurde dadurch verstärkt. Und es fehlte nicht viel, um in das Szenario zu schliddern, das Jens-Michael Volckmann in seiner Erzählung „Neuundeunzig Namen“ überzeugend dargestellt hat.

Ich kann diese Erzählung jedem empfehlen, der sich tagtäglich von Medien berieseln lässt, Informationen unkritisch aus dem Internet saugt und somit dahin tendiert, seine eigene Meinungsbildung anderen zu überlassen. Es war noch nie so leicht an Informationen zu geraten wie heute. Es war aber auch noch nie so leicht an Fehlinformationen zu geraten.

Fazit:
Eine bemerkenswerte Erzählung mit einem top-aktuellem Thema, hervorragend ausgearbeitet. Der Aufbau ist ungewöhnlich, trägt aber zur Spannung bei, die unglaublich hoch ist. Diese Erzählung ist für mich ein Appetithappen, der Lust auf Mehr aus der Feder von Jens-Michael Volckmann macht. Mal sehen, was er sonst noch so schreiben wird ;-)