Rezension Rezension (4/5*) zu Die Vegetarierin: Roman von Han Kang.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Abgründe der Einsamkeit...

Yeong-Hye lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Wohnung in Seoul, bescheiden und unauffällig. Jeder geht täglich seinen Aufgaben nach, pflichtbewusst und beflissen, sei es in dem Bürojob, sei es im Haushalt. Ein durchschnittliches Leben in angenehmer Eintönigkeit, ohne Ambitionen oder Leidenschaften.


"Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie für nichts Besonderes. Bei unserer ersten Begegnung fand ich sie nicht einmal attraktiv. Mittelgroß, ein Topfschnitt, irgendwo zwischen kurz und lang, gelbliche unreine Haut, Schlupflider und dominante Wangenknochen. So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten."


Yeong-Hyes Mann hätte so bis ans Ende seiner Tage zubringen können - hätte seine Frau nicht zu träumen begonnen. Diese Träume jedenfalls sind der Grund, weshalb Yeong-Hye plötzlich beschließt, kein Fleisch mehr zu essen und auch alle anderen tierischen Produkte aus dem Haushalt zu entfernen. Die junge Frau ist dabei sehr konsequent, magert in kurzer Zeit bis auf die Knochen ab. Bei einem Geschäftsessen blamiert Yeong-Hye ihren Mann mit ihrer Haltung, bei einem Familienessen kommt es zum Eklat. Während ihr Mann sich zunehmend von Yeong-Hye distanziert, reagiert ihr Schwager fasziniert auf sie. Er stellt sie in den Mittelpunkt seines neuesten Kunstprojekts, Yeong-Hye als perfektes Motiv für seine avantgardistische Videokunst - und er verfolgt dies obsessiv, bis es auch hier zum Eklat kommt. Seine Frau, Yeong-Hyes Schwester, versucht zu retten was zu retten ist. Und zu verstehen.

Dies ist der erste Roman einer südkoreanischen Autorin, den ich gelesen habe. Trotz seiner Kürze von gerade einmal 190 Seiten ist er ausgesprochen anspruchsvoll - nicht aufgrund der Sprache, die klar, wenig poetisch und oftmals auch reduziert ist, sondern aufgrund der zahlreichen verstörenden, oftmals traumartigen Bilder, der kafkaesken Erzählung, der surrealen und gleichzeitig symbolbehafteten Inhalte.

Dennoch habe ich den Roman gerne gelesen, denn er bietet Einblicke in das Leben Südkoreas, wo strenge soziale Normen herrschen und alles was aus dem Durchschnitt herausfällt als subversiv gilt. Die Entwicklung um Yeong-Hye ist der rote Faden des Buches, doch werden die drei Abschnitte des Romans aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven erzählt, nie allerdings aus der von Yeong-Hye selbst. Zunächst erlebt ihr Ehemann die Veränderungen Yeong-Hyes, später wechselt die Perspektive zu ihrem Schwager und als letztes zu ihrer Schwester. Das Empfinden der Einzelnen letztlich im Kontrast zu dem der Gesellschaft im allgemeinen und der beteiligten Institutionen im besonderen auf das veränderte Verhalten Yeong-Hyes werden so sichtbar und deutlich: die Verwirrung, Verängstigung, Bedrohung, der Versuch zu verstehen, aber auch das wachsende Bewusstsein von der eigenen Einsamkeit, das Hinterfragen.

Für mich strotzt die Erzählung nur so vor Symbolik, die sich mir vermutlich nur ansatzweise entschlüsselt. Was für mich hier deutlich Thema ist, ist das Eingeengtsein, das starre Angepasstsein, das um-alles-in-der-Welt-nicht-auffallen-Dürfen in der koreanischen Gesellschaft. Was aber zwangsläufig einhergeht mit der Entsagung von Lebensfreude, dem Alltagstrott ergeben, mit der Unterdrückung von Gefühlen und auch von Leidenschaften. Yeong-Heye wagt hier einen kleinen Akt der Unabhängigkeit, der eine Lawine nach sich zieht - und letztlich nur eine logische Konsequenz hat. Jeder Ausbruch aus den engen Konventionen wird in Südkorea nicht nur argwöhnisch beäugt, sondern gleich auch schwer geahndet - Ächtung durch die Verwandtschaft, Psychiatrie, Gefängnis. Also bleibt nur die vollkommene Verweigerung, die Flucht nach innen, weil es sonst keinen Weg zu geben scheint. Alle drei Perspektiven berichten von dieser Aussichtlosigkeit, und für alle drei ist das bisherige Dasein unerträglich - der Preis für das ewige, scheinbar emotionslose, Angepasstsein. Das ist die Botschaft, die dieser Roman für mich transportiert.

Ein außergewöhnlicher Roman, der in die Abgründe der Einsamkeit führt und von bizarren und grotesken Bildern lebt. Mir hat er gut gefallen und meiner Meinung nach völlig zurecht den International Man Booker Prize erhalten.


© Parden

 

Renie

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