Rezension Rezension (5/5*) zu Letzter Bus nach Coffeeville von J. Paul Henderson.

Renie

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19. Mai 2014
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Über eine tiefe Freundschaft und ein Versprechen

Ein Schwarzseher, ein toter Scharfschütze, ein Wettermann und ein Waisenkind … Dies sind nur einige der Charaktere aus J. Paul Hendersons originellem Roman über einen Bustrip durch die Südstaaten des heutigen Amerikas. Im Mittelpunkt steht dabei die lebenslange und bedingungslose Freundschaft der Protagonisten und die Einforderung eines Versprechens.

Worum geht es in diesem Roman?
Nancy Skidmore leidet an Alzheimer. Bereits in ihrer Jugend war ihr bewusst, welches Schicksal ihr droht, da diese Krankheit in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergereicht wird. Mittlerweile ist sie Ende 60 und die Symptome der Krankheit werden immer schlimmer. Ihre größte Angst war immer, dass sie im Alter ein menschenunwürdiges Leben führen muss und nur noch ein Schatten ihrer selbst sein wird. Daher hat sie mit Anfang 20 ihrem Freund „Doc“ Eugene das Versprechen abgenommen, dass er sich um sie kümmern wird, sobald sie ihre Krankheit nicht mehr allein meistern kann. Lange Zeit hat er nichts von Nancy gehört. Genauso wenig wie von Bob. Die drei waren in ihrer Jugend immer als Dreiergespann unterwegs, haben sich aber über lange Jahre aus den Augen verloren. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, dass Doc sein Versprechen einlösen muss. Er beschließt, Nancy nach Coffeeville zu bringen. Hier gibt es ein Haus im Besitz der Familie Skidmore, in dem Nancy während der Zeit als sie noch klar im Kopf war, viele glückliche Stunden verbracht hat. Doch Doc benötigt Unterstützung während der Reise nach Coffeeville. Begleitet werden Nancy und Doc daher von Bob, dem alten Freund sowie Jack, Doc's Patensohn. Unterwegs stößt noch Eric dazu, ein elfjähriges Waisenkind, das auf der Suche nach Familie und Geborgenheit ist. Er hofft, dies bei seiner Cousine Susan, die im Erotikgewerbe tätig ist, zu finden. Der Zufall führt Eric mit den drei Männern und Nancy zusammen, die ihm nun bei der Suche helfen wollen. Aber egal, wie die Suche ausgehen wird. Coffeeville wird die Endstation dieser Reise sein.

"Die Nancy Skidmore, die inzwischen in der geschlossenen Abteilung des Pflegeheims lebte, hatte nicht mehr viel mit dem Menschen zu tun, der sie früher einmal gewesen war. Ihr Geist war von Flechten und Moos überzogen wie ein alter Grabstein, und die Tür zu ihrem Gedächtnis war nur noch einen Spalt breit offen. Bald wäre sie verriegelt und verrammelt." (S. 239)

Der Roman beginnt, indem J. Paul Henderson zunächst seine Charaktere vorstellt. Er holt dabei weit aus und beginnt in den Jahren, in denen der Grundstein für die Freundschaft von Nancy, Doc und Bob gelegt wurde. Auch wenn sie sich jahrelang aus den Augen verloren haben und sie nicht mehr viel voneinander wissen, verbindet sie diese tiefe uneingeschränkte Vertrautheit, die sich nur bei lebenslangen Freundschaften finden lässt. Der Leser erfährt, welche großen und kleinen Dramen die Protagonisten in der Vergangenheit erlebt haben, und wie sehr sie diese Dramen geprägt haben.

J. Paul Henderson hat aus seinen Charakteren etwas Besonderes gemacht. Auf den ersten Blick erscheinen sie „merkwürdig“. Sie haben Eigenarten an sich, die man als „schräg“ beschreiben kann. Aber je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, umso intensiver lernt man die „wahren“ Charaktere kennen: verantwortungsvolle Menschen, die sich aufopfernd umeinander kümmern und für die Freundschaft eine lebenslange Verpflichtung bedeutet, die man gern erfüllt – in guten wie in schlechten Zeiten!

"In Wahrheit war Doc davon überzeugt, dass von den Menschen abgesehen, mit denen er im Moment gemeinsam unterwegs war, ihn niemand wirklich kannte, selbst wenn sie wussten, wie er hieß. Das bereute er rückblickend am meisten: Dass er sich zeit seines Lebens nicht dagegen gewehrt hatte, zu einer Karikatur dessen zu werden, wie ihn andere sahen, anstatt der zu sein, als der er sich wirklich fühlte. Alle gingen davon aus, dass er kein großer Menschenfreund, am liebsten allein war und kaum Gefühle hatte." (S. 402)

Die Reise nach Coffeeville führt die Freunde quer durch die Südstaaten Amerikas. Der Leser stellt schnell fest, dass Henderson seine Protagonisten durch eine heile Welt reisen lässt. Idyllische Landschaften, kleine Ortschaften, wenig Schmutz und Lärm. Ja, den Leuten geht es gut in diesen Breitengraden. Der Inbegriff der heilen Welt findet sich tief in Walton’s Mountain. Wer kennt sie nicht, die TV-Familie Walton aus den 80ern? Die Amerikaner liebten diese Fernsehserie - und nicht nur die Amerikaner. Bei den Waltons war die Welt noch in Ordnung. Auch wenn sich ein paar Sorgen in den Alltag dieser Familie schlichen, spätestens beim Zubettgehen, waren diese Probleme vergessen. „Gute Nacht, John-Boy! Guten Nacht, Sue-Ellen! Gute Nacht Grandpa! …“ Dieses allabendliche Ritual reichte aus, dass dem Zuschauer ganz warm ums Herz wurde.

"Die Serie war ein großer Erfolg. Ihre Fangemeinde sehnte sich zurück nach dieser längst vergangenen Zeit, in der es noch klare Regeln gab und man ein gottesfürchtiges Leben führte, als traditionelle Werte noch groß geschrieben wurden, der Familienzusammenhalt stark und Einsamkeit ein Fremdwort war. Dass das Leben von damals, wie es in der Serie dargestellt wurde, so nie existiert hat, war den Millionen begeisterter Zuschauer egal, und jede Woche tauchten sie aufs Neue ein in das Leben und die Probleme der Menschen, die in Walton's Mountain lebten, und vergaßen dabei nur zu gern, dass der Schauspieler, der Grandpa Walton verkörperte, einmal Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war." (S. 339 f.)

Und hier kommt der satirische Charakter von Henderson's Roman durch. Denn bei allem Heile-Welt-Denken vergisst er nicht darauf hinzuweisen, dass Spießigkeit und Scheinheiligkeit einen großen Platz in dieser Gesellschaft einnehmen. Henderson lässt keine Möglichkeit aus, den konservativen Teil der amerikanischen Gesellschaft durch den Kakao zu ziehen. Das macht das Buch sehr komisch, denn die Bloßstellungen der Gesellschaft sind dabei äußerst fantasievoll und originell.

Dieser tolle Roman bewirkt bei dem Leser Einiges. Nahezu die komplette Gefühlspalette wird durchlaufen. Man lacht und weint, empört sich und fühlt mit. Man hofft und bangt. Dieser Roman lässt einen nicht los. Man genießt jede Seite, denn J. Paul Henderson hat viel zu erzählen. Sein Sprachstil ist dabei sehr lebhaft, so dass es einfach nur Spaß macht, der Geschichte um die alten Freunde in ihrem klapprigen Bus zu folgen.

J. Paul Henderson hat dieses Buch geschrieben, nachdem seine Mutter nach langer Leidenszeit vor einem Jahr an Alzheimer gestorben ist. Dieser Roman ist sein Erstlingswerk und er musste tatsächlich 67 Jahre alt werden, um seine schriftstellerische Gabe zu entdecken. Man kann nur hoffen, dass er nicht lange mit weiteren Romanen auf sich warten lässt. Denn „Letzter Bus nach Coffeeville“ macht eindeutig Lust auf mehr von J. Paul Henderson.

© Renie

 
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