Rezension Rezension (5/5*) zu The Gracekeepers von Kirsty Logan.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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'What are those circus folk hiding in the dark, hmm?'

"The Gracekeepers" ist ein Buch, das die verschiedensten Reaktionen hervorruft: Leser auf der ganzen Welt sind bezaubert, begeistert, ergriffen, verwirrt, enttäuscht, sogar wütend... Manchmal mehreres davon auf einmal.

Sowohl positive als auch negative Stimmen sprechen von der traumgleichen Absonderlichkeit der Geschichte, und ich denke, vor allem daran scheiden sich die Geister. Es ist kein handlungsgetriebenes Buch mit einem zentralen Konflikt, einem linearen Handlungsbogen und einer sauberen, klaren Auflösung am Schluss. Die Geschichte lebt von ihren ungewöhnlichen Charakteren und ihrer dichten Atmosphäre, und diese hat tatsächlich etwas von einem Traum, der sich oft an der Grenze zum Albtraum bewegt. Wie in einem Traum springt die Handlung hin und her zwischen den Charakteren, manchmal auch zwischen den Zeiten. Vieles wird angesprochen, nicht alles wird aufgeklärt, das meiste muss man zwischen den Zeilen lesen oder sich selber weiterspinnen.

Dadurch war es für mich vielleicht kein spannendes Buch, aber ein seltsam hypnotisches, das mich nicht mehr losgelassen hat.

Meiner Meinung nach kann dieses unstete Hin und Her in einem Buch mächtig schief gehen, aber in diesem passt es perfekt. Denn eines der wiederkehrenden Themen ist Schein und Sein: der ewige Konflikt zwischen Wahrnehmung und Wahrheit. Keiner der Charaktere präsentiert der Welt sein wahres Gesicht, und so ergeben erst die kleinen Einblicke aus verschiedenen Blickwinkeln ein Bild, das der Wahrheit nahe kommt.

So erschien mir der Zirkusbesitzer, eine grauenerregende Gestalt mit blutigem Gesicht, erst wie ein richtiger Tyrann - aber in Kapiteln, die aus seiner Sicht erzählt werden, erfährt man, dass er nachts selber furchtbare Albträume hat, in denen seine Crew in Gefahr ist und er sie nicht retten kann... Außerdem scheint er tatsächlich eine Art väterliche Liebe für die Menschen in seinem Zirkus zu empfinden, wobei er vollkommen blind ist gegenüber Falschheit oder gar Bösartigkeit. Und er ist nicht der einzige Charakter, bei dem man immer wieder umdenken muss! Mich hat das sehr angesprochen, und ich war beeindruckt davon, wie die Autorin mit den Erwartungen der Leser spielt.

Das Buch ist in einer unbestimmten Zukunft angesiedelt, in der die Polkappen geschmolzen sind und die Landmasse der Erde daher bis auf wenige Inseln überflutet wurde. Die wenigen Landbewohner, die "Landlockers", leben in relativem Wohlstand, während die große Mehrheit der Menschen, die sogenannten "Damplings", ein hartes Leben in Booten auf See lebt.

Daraus ergeben sich zwei weitere wichtige Themen des Buches: 1) Tod und Vergänglichkeit, denn die Lebenserwartung ist so gering, dass es fast schon als Wunder angesehen wird, wenn man als erwachsener Mensch noch beide Eltern hat, und 2) die Ausgrenzung des "Anderen", denn die Landlockers und Damplings betrachten sich gegenseitig mit fast abergläubischem Misstrauen, manchmal sogar Hass.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei junge Frauen, die alle diese Themen (Schein und Sein, Vergänglichkeit, Ausgrenzung) perfekt verkörpern:
Callanish lebt als "Gracekeeper" ganz alleine auf einer kleinen Insel. Ihre Aufgabe ist es, die Leichen auf See verstorbener Menschen nach einem festgelegten Ritus dem Meer zu übergeben. Von Geburt her ist sie eine Landbewohnerin, aber sie verbirgt ein Geheimnis, das sie gleichermaßen vor den Landbewohnern und den Seefahrern verstecken muss - außerdem hat sie durch einen fatalen Fehler (vermeintlich) Schuld auf sich geladen. Sie ist unendlich einsam, fühlt sich aber direkt unerklärlicherweise von North angezogen.

North ist das "Bärenmädchen" des Zirkus Excalibur. Schon als kleines Kind hat sie ihre Eltern verloren (mehr möchte ich darüber noch nicht verraten), und danach wurde ihr trotz ihres jungen Alters die Aufgabe übertragen, sich um ein Bärenjunges zu kümmern und mit ihm aufzutreten. Sie teilt sich mit ihrem Bären ein Boot, und obwohl das ein ständiges Spiel mit ihrem Leben ist (immerhin ist ein Bär trotz allem ein Wildtier), ist der Bär alles für sie: Familie und Heimat. Aber auch sie verbirgt etwas, das ihre Existenz, wie sie sie bisher kannte, gefährdet.

Beide suchen im Grunde nach einer Heimat, wissen aber selber nicht, was (oder wer) diese Heimat tatsächlich sein könnte. Diese Suche war für mich das Herz der Geschichte, auch wenn sie nicht so verlief, wie ich das erwartet hatte...

Das Buch lässt sich nur schwer einem Genre zuordnen. Postapokalyptischer magischer Realismus mit Märchenelementen? Ich fand es unglaublich originell, wie die Autorin Elemente verschiedener Genres verbindet!
Man muss sich auf jeden Fall darauf einlassen und es auf sich einwirken lassen, aber ich würde sagen: es lohnt sich. Am besten wirft man erstmal alle Erwartungen über Bord!

Der Schreibstil hat eine ganz besondere, fließende "Stimme", mit wunderbaren Bildern. Ich fand ihn unwiderstehlich und konnte mich der Atmosphäre einfach nicht entziehen - und die ist es auch, die in meinen Augen das ganze Buch zusammenhält.

Fazit:
Hinweis: Noch gibt es dieses Buch nicht auf deutsch, aber das kann ja noch werden.

"The Gracekeepers" spielt in einer Zukunft, in der die Polkappen schon lange geschmolzen sind und nur noch wenige Inseln aus dem Wasser ragen. Kirsty Logan erzählt die Geschichte zweier ganz unterschiedlicher Frauen: Callanish, die auf einer einsamen Insel über die Toten wacht, und North, die als Teil eines schwimmenden Zirkus' Nacht für Nacht einen gefährlichen Tanz mit ihrem Bären vorführt. Beide hüten ein Geheimnis, dass sie zu Ausgestoßenen machen könnte und sie auf merkwürdige Art miteinander verbindet.

Das Buch spaltet die Gemüter, was ich sogar nachvollziehen konnte: die Handlung dümpelt meist behäbig vor sich hin und ist in meinen Augen auch eher zweitrangig - die Geschichte lebt von einer traumgleichen Atmosphäre, ungewöhnlichen, kraftvollen Bildern und einem Schreibstil voll zarter Poesie. Man kann sich nie darauf verlassen, dass ein Charakter der ist, der er zu sein vorgibt, und auch sonst lässt das Buch Vieles unausgesprochen. Mir hat es sehr gut gefallen, mich für ein paar Stunden davon einlullen zu lassen und danach über die vielen angesprochenen Themen nachzudenken...

Ich rate jedem interessierten Leser, einfach eine Leseprobe herunterladen, denn man merkt sicher sehr schnell, ob das Buch einem liegt oder nicht.


 

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