Rezension Rezension (4/5*) zu Waldesruh: Ein Aetherwelt-Roman von Anja Bagus.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Waldesruh: Ein Aetherwelt-Roman von Anja Bagus
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Steampunk im Schwarzwald

Ich muss gestehen: ich habe erst wenige Bücher aus dem Genre "Steampunk" gelesen (und bislang nur Æthermagie und Æthersturm von Susanne Gerdom rezensiert - großartige Bücher!), aber deswegen war ich doppelt so gespannt, wie mir "Waldesruh" gefallen würde, das mir auf dem Steampunk-Festival in Osnabrück in die Hände sprang.

Und für diejenigen, die sich jetzt fragen: "Häh? Steampunk?", folgt hier erstmal, wie ich persönlich (als Nicht-Expertin) "Steampunk"als literarisches Genre verstehe:

Meines Erachtens beruht dieses Genre auf den Büchern von Autoren wie Jules Verne und H.G. Wells. in denen Menschen basierend auf der zur viktorianischen Zeit verfügbaren Technik (hauptsächlich Dampfkraft, daher auch "Steam") sehr modern und fortschrittlich anmutende Erfindungen machen oder einsetzen. Also sozusagen Retro-Science-Fiction, die nicht in unserer Zukunft spielt, sondern in einer alternativen Vergangenheit.

Viele heutige Steampunk-Bücher spielen daher im viktorianischen Zeitalter, können jedoch auch in anderen Epochen angesiedelt sein. Oft kommt zum Futuristischen noch eine Art Abenteuerromantik, manchmal spielt etwas namens "Æther" eine Rolle, was in verschiedenen Büchern etwas ganz Unterschiedliches sein kann:

In der "Ætherwelt" von Anja Bagus ist Æther ein grüner Nebel, der aus Gewässern aufsteigt und nicht nur Maschinen antreiben oder Materalien wie Stahl veredeln kann, sondern auch Menschen in sogenannte "Veränderte" (oder abwertend "Verdorbene") verwandeln: Mannwölfe, Meerjungfrauen, Naturgeister....

Wie sie das umsetzt, liest sich meiner Meinung nach spannend, unterhaltsam und originell, mir wurde es beim Lesen nie langweilig. Besonders gut gefiel mir, wie sie hier alte Sagengestalten in die Geschichte einbaut - und mehr möchte ich darüber noch gar nicht verraten, um niemandem den Spaß zu verderben.

Spannend fand ich nicht nur, dass die Hauptcharaktere den rätselhaften Mord an einem Glasmacher aufklären müssen, der mit Glas und Æther experimentierte - sie müssen sich dabei auch mit religiösen Fanatikern auseinander setzen, die alles, was mit Æther zu tun hat, als Teufelswerk betrachten, und mit einer uralten Macht, die den Glasberg in Besitz genommen hat... Diese Mischung aus Mythologie, alternativer Historie, Science Fiction und Fantasy hat mich einfach sehr stark angesprochen.

Der Schreibstil hatte in meinen Augen so seine Höhen und Tiefen. Es gibt immer mal wieder Sätze, die sich für mich etwas holprig und unbeholfen lasen - aber für jeden Satz dieser Art gibt es mindestens zehn großartige Sätze, die mit wunderbarer Sprachmelodie eine reiche Atmosphäre vermitteln. Den Dialekt der Dorfbewohner fand ich gut umsetzt: einerseits urig genug, um der Geschichte Lokalkolorit zu geben, andererseits immer noch gut verständlich.

Da ich jemand bin, dem so etwas direkt ins Auge springt, wurde ich immer mal wieder kurz angesprungen von fehlenden Wörtern, überflüssigen Wörtern oder verdrehten Sätzen in der Art von "Ein Wunder, dass es ihr überhaupt bemerkt hatte, dass Minerva nicht anwesend war" - aber ich würde sagen, das stört eigentlich kaum, man kann ganz gut darüber weg lesen.

Die Hauptcharaktere fand ich überwiegend interessant und gut geschrieben.

Im Mittelpunkt steht die junge Witwe Minerva, Freifrau von Rappenfeld-Zähringen. Sie ist eine starke Frau, die sich nicht um Konventionen schert, sondern in Männerkleidung herumläuft, leidenschaftlich gerne an Motoren rumschraubt und in der Vergangenheit auch schon Autorennen gefahren ist.

Schon nach wenigen Seiten fühlt sich Minerva direkt von zwei attraktiven Männern angezogen: dem Unternehmer Falk Bischoff und dem preussischen Hauptmann Richard zu Kirschbronn. Richard blieb für mich etwas blass, aber Falk ist in meinen Augen in interessanter Charakter: auf den ersten Blick aufbrausend und arrogant, ein echtes Alphatier, aber dann doch mit deutlich mehr Empfindsamkeit und Tiefe, als man dahinter erwarten würde.

Normalerweise hasse ich romantische Dreiecksgeschichten, aber Gott sei dank ist Minerva eine entschlossene Frau, die schnell weiß, wen sie will. Allerdings ging mir die Liebesgeschichte entschieden zu schnell. und ich fand ein wenig befremdlich, wie begeistert die emanzipierte Minerva auf einmal davon ist, sich als "Besitz" eines Mannes zu fühlen... Dennoch fand ich die romantischen und erotischen Szene ansprechend geschrieben.

Fazit:
Steampunk aus Deutschland: in einer alternativen Vergangenheit ermöglicht ein geheimnisvoller grüner Nebel, Æther genannt, zahlreiche technische Entwicklungen, verwandelt aber auch Menschen und Tiere in übernatürliche Wesen. Als kurz vor dem Neujahrsfest 1912 im Hotel "Waldesruh" die verschiedensten Gäste aus den unterschiedlichsten Gründen zusammenkommen, ahnen sie noch nicht, dass hier uralte Mächte kurz vor einem großen Kampf stehen.

Ich fand die Geschichte sehr einfallsreich und ansprechend geschrieben, mit einer starken Frauengestalt im Mittelpunkt. Die Handlung hat viele unerwartete Wendungen zu bieten und bleibt von Anfang bis Ende spannend. Einzig die Liebesgeschichte, die in nur zwei Tagen von 0 auf 100 durchstartet, hat mich nicht völlig überzeugen können.