Rezension Rezension (5/5*) zu Das achte Leben (Für Brilka) von Nino Haratischwili.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das achte Leben (Für Brilka) von Nino Haratischwili
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Eine beeindruckende Familiensaga

Vorne weg
Was für ein gewaltiger Roman und das in vielerlei Hinsicht. Zunächst umfasst er unglaublich viele Seiten und abends beim Lesen ist die Hardcover-Version auch eine echte Herausforderung - kräftemäßig.
Ein Roman, in dem die Familiengeschichte einfühlsam von Niza, der Ich-Erzählerin, für ihre Nichte Brilka erzählt wird. Eine Geschichte mit unzähligen Einzelschicksale, die fast alle tragisch sind und traurig stimmen. Trotz allem ein großartiger Roman, der auch die Geschichte Georgiens und damit verknüpft der Sowejtunion im 20.Jahrhundert mittels der einzelnen Figuren erlebbar macht.


Inhalt
Im Prolog reflektiert die Ich-Erzählerin darüber, welchen Anfang diese Geschichte haben soll und spricht ihre Adressatin direkt an. Der ganze Roman ist als eine Art Dialog zu sehen bzw. als Brief an die Nichte (an Brilka) zu sehen. Ein Brief, in dem Niza Jaschi ihre Familiengeschichte erzählt und Brilka ihre Wurzeln, ihren Ursprung und auch ihre Bürde erklären will, damit sie ein neues, ein unbelastetes, das achte Leben beginnen kann. So ist der Roman in 8 Bücher unterteilt, wobei das letzte - noch "leere" Brilka gewidmet ist.
Der Roman beginnt beim Schokoladenfabrikanten, der eine geheime Rezeptur für Heiße Schokolade erfunden hat, die jeden schwach werden lässt - und seiner Meinung nach gefährlich ist, da ein Fluch auf ihr liege. Die erste Hauptfigur ist Stasia -eigentlich Anastasia-, seine drittälteste Tochter, die sich in Simon Jaschi verliebt, der sich den Rotarmisten in der Oktoberrevolution 1917 anschließt und Georgien verlässt. Stasia bringt Kostja zur Welt und als ihr Mann verletzt von den Kämpfen zurückkehrt, hat sich das Paar entfremdet. Daran ändert auch die Geburt der Tochter Kitty nichts. Der Traum vom freien Georgien zerplatzt und der Kaukasus gerät unter den Einfluss der Bolschewisten und ihres kommunistischen, totalitären Systems. Stasia zieht zu ihrer wunderschönen Halbschwester Christine, die mit einem 20 Jahre älteren mächtigen Mann des sowjetischen Geheimdienstes NKWD verheiratet ist. Aufgrund ihrer Schönheit erlangt sie die Aufmerksamkeit des Vorgesetzten ihres Mannes - dem Kleinen Großen Mann, wie er im Roman genannt wird und hinter der sich die realen Figur des georgischen Diktator Beria verbirgt. Christines Schönheit wird ihr und ihrer Ehe zum Verhängnis. Doch es gelingt ihr, sich aus der Depression zu befreien und ihr weiterer Lebensweg wird dadurch bestimmt, ihre Gunst zunächst ihrem Neffen Kostja und dann den Nachfahren von Stasias Freundin Sopio zu schenken. Sopio ist in diesem Roman eines der vielen Opfer des totalitären Systems, in denen eine Denunziation ausreicht, um für den Rest des Lebens weggesperrt oder gefoltert und psychisch zerstört zu werden. Stasias Verhalten ist in diesem Zusammenhang kaum nachvollziehbar, denn sie harrt der Ereignisse, statt ihre Freundin zu warnen oder ihr zu helfen. Sie ist die Figur, die immer am Rand der Geschichte zu stehen scheint, statt einzugreifen.

Der Ich-Erzählerin gelingt es mithilfe ihrer Mutmaßungen und Reflektionen diese komplexe Geschichte zusammenzuhalten und die Fäden, die den Lebensteppich der Familie Jaschi knüpfen, nicht zu verlieren.
Nach Christines Geschichte stehen die Kinder Stasias im Mittelpunkt und Kittys Schicksal ist nur schwer zu ertragen, da sie - zumindest für mich - die Sympathieträgerin des Romans ist. Sie ist jedoch die Einzige, der es gelingt dem totalitären Staat zu entkommen, allerdings mithilfe ihres Bruders, der über entsprechende Macht innerhalb des Systems verfügt und zum alles überstrahlenden Patriarch der Familie wird, der das Schicksal der einzelnen Frauenfiguren und das der Nachkommen Sopios maßgeblich beeinflusst und auch zerstört.
In der nächste Generation zerbricht Elene an den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, und von ihren Töchtern ist es schließlich Niza - die Ich-Erzählerin - die sich nach dem Untergang der Sowjetunion in den Westen aufmacht, um ihrer Familie und ihrer eigenen Last zu entfliehen. Erst nach der Begegnung mir Brilka gelingt es ihr, sich der Familiengeschichte zu stellen und die Zusammenhänge aufzuzeigen. Sichtbar zu machen, dass die Menschen in einem totalitären System keine Entscheidungsfreiheit haben und daher die einzelnen Geschichten tragisch enden müssen. Das Ende versöhnt - das hat man sich nach 1275 Seiten auch verdient.

Bewertung
Das Beeindruckende an dem Roman ist einerseits, dass es der Ich-Erzählerin immer wieder gelingt, die Fäden zusammenzuführen und die Ereignisse so zu schildern, dass man eben jenen roten Faden nicht verliert. Dabei hilft der fiktive Dialog mit ihrer Nichte, dadurch fühlt man sich immer mit angesprochen.
Andererseits sind es die vielen anderen Einzelschicksale, die en passant erzählt werden, von den Figuren, die die Protagonisten begleiten. Ein breites Spektrum an Lebensgeschichten in einem unmenschlichen totalitären Staat, in der die Angst, Verrat und Opportunismus regieren. In einem Interview äußert sich die Autorin ausführlich zu dieser Thematik und betont, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt, obwohl es einige Parallelen zwischen der Ich-Erzählerin und ihr selbst gibt. (Gespräch mit Nino Haratischwili)
Es gelingt ihr, ihre Figuren so in die historischen Ereignisse einzubetten, die sowohl die Geschichte Georgiens als auch die Weltgeschichte umfassen, dass man als Leser glaubt, sie müssten tatsächlich gelebt haben. Diese Einbettung macht aber vor allem deutlich, wie sehr die politischen Gegebenheiten das Leben ihrer Protagonisten determinieren.
Trotz der Tragik der Einzelschicksale und der Schwermut, die sich beim Lesen über die Seiten zieht, ist es ein Roman, den ich nicht aus der Hand legen wollte, und gleichzeitig wünsche ich mir, immer weitere Geschichten von Niza, Brilka und all den anderen lesen zu können.

 

Tiram

Bekanntes Mitglied
4. November 2014
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Eine tolle Rezi, @Querleserin, vielen Dank. Für mich war das Buch quasi eine Offenbarung. Es war nach der Wende das erste, dessen Geschichte irgendwo in der ehemaligen UdSSR spielt. Zu DDR-Zeiten habe ich zwar einige gelesen, aber dort wurde das natürlich alles ganz anders dargestellt.