Mit welch unspektakulären, aber erzählerisch raffinierten Mitteln der in Japan geborene und heute in England lebende Kazuo Ishiguro den Leser in seine Geschichte einwebt, gleicht einem kleinen Wunder. Sachter kann man nicht hineingeführt werden in eine Traumwelt, die sich zunehmend als bedrückende und faschistoide Zukunftsvision entpuppt. In den Rückblicken Kathys, die heute als „Betreuerin“ arbeitet, wird alles noch einmal lebendig: Ruth, Kathys beste Freundin. Der rebellische, von allen abgelehnte Tommy, der nur Kathy vertraut -- und doch mit Ruth eine Beziehung eingeht. Der Schulalltag und seine sanften, aber rigorosen Überwachungsmechanismen. Die Fragen hinter vorgehaltener Hand. Die Rebellion, die nie stattfindet.
Ein wundervolles Werk von großer Nachhaltigkeit. In manchem gleicht Ishiguro einem literarischen Update von Daphne du Maurier. Selbst sein traumverlorenes, weltfernes Hailsham erinnert vage an Manderley aus Rebecca (anscheinend kann sich keiner der Schüler später daran erinnern, wo Hailsham überhaupt lag). Ishiguros unaufgeregter, hochliterarischer Ton aber ist es, der den Schrecken erst richtig eindringlich macht. Ein Schrecken, der in einer technikversessenen Welt längst nicht mehr abwegig erscheint. Begleiten wir die Schüler auf ihrem Weg, herauszubekommen, wer sie sind, wo sie herkommen und -- was aus ihnen einst werden soll. Madame wusste es: „Ihr armen Geschöpfe!“ --Ravi UngerKaufen
Eine ganze Strecke über lässt der Roman „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro den Leser etwas verstört zurück. Denn wenn die Geschichte in dem englischen Internat „Hailsham“ startet und die Internatszeit der drei Hauptpersonen Kathy, Tommy und Ruth erzählt, merkt der Leser bald: Irgendetwas stimmt doch hier nicht in dem Beziehungsgeflecht der Personen zueinander. Oder ist es erzählerische Schwäche, dass alles etwas gestelzt und hölzern wirkt, was sich in Hailsham abspielt? Eine ganze Zeit lang war ich mir da nicht sicher. Aber bald merkte ich dann doch, dass diese Verstörtheit nicht Schwäche des Romans ist, sondern sein Kalkül, das er sehr wirkungsvoll dosiert einsetzt. Um dadurch nämlich zu zeigen: Hier geht es um Personen, die anders sind als andere Menschen. Was genau an ihnen anders ist, das erkennt der Leser nur in kleinen Dosen und Andeutungen. In dieser Dosierung habe ich dann auch nach einiger Verstörtheit genau die Stärke des Romans entdeckt, der mich so langsam aber sicher und mit jeder Seite mehr überzeugen konnte. Es ist ein gelungenes Stilmittel des Autors, dass das Wort, das sich immer mehr in die Gedanken des Lesers drängt und das „Anderssein“ der Personen auf dramatische Weise erklärt, dann auch nur einmal und zwar indirekt und nur kurz und nebensächlich tatsächlich im Roman auftaucht:
„Was hätte sie wohl gesagt, wenn wir sie gefragt hätten? ‘Verzeihung, aber glauben Sie, dass Ihre Freundin sich je als Klon-Modell zur Verfügung gestellt hat?“
Der Roman berichtet also – jetzt ist es auch in meiner Rezension heraus – von dem Leben von Klonen. Von ihrem Heranwachsen in dem Internat Hailsham und ihrem begrenzten Leben danach als Betreuer und Spender. Es ist ein Leben, in dem Beziehungen zueinander eine ganz neue Bedeutung erhalten, in dem Vergangenheit und Zukunft nicht vergleichbar sind mit menschlicher Rückschau und Perspektive nach vorn.
So bleibt die VERGANGEHEIT der Hauptpersonen immer etwas nebelhaft. Sobald sie sich fortentwickeln, bleiben die Erinnerungen an die gelebten Jahre irgendwie im Dunkeln und das Erinnerungsvermögen stößt immer wieder an Grenzen. Zudem findet eine letztlich zwecklose Suche nach der Vergangenheit in Form des versuchten Aufspürens der „Möglichen“ im Roman statt, damit gemeint sind mögliche Originale der handelnden Klonpersonen, also letztlich deren Eltern – und wieder auch nicht. Die Absurdität der Rolle der Klone wird in dieser vergeblichen Suche ungemein eindrucksvoll vor Augen geführt.
Und die ZUKUNFT … – gibt es die überhaupt abseits der das Ende vorherdiktierenden Spende von lebenswichtigen Organen? Für eine kurze Zeit hoffen Kathy, Tommy und auch Ruth darauf in Form des „Aufschubs“. Aber dieser erweist sich sehr bald als reiner Mythos und so ist die Zukunft dann eben doch ohne Alternative vorherbestimmt.
Die ethische Diskussion um das Klonen findet im Roman weitgehend und lange vollkommen unbemerkt von den Betroffenen innerhalb der Lehrerschaft in Hailsham statt, die die frage zu ergründen versuchen, Haben die Klone eine Seele? Und genauso untergründig schleicht sich diese Diskussion auch in die aufmerksame Lektüre des Romans ein.
Kathy, Tommy und Ruth entkommen so alle nicht ihrem Klonschicksal, nämlich letztlich als Ersatzteillager der Menschheit für eine fortschrittliche Weiterentwicklung der medizinischen Möglichkeiten zu dienen. Ein wirklich grausamer Schluss dieses Romans.
Der Roman ist 2010 in England verfilmt worden und nach Lektüre des Buches habe ich mir auch gleich den Film angesehen. Mit viel Interesse an der Frage: Wie kann es ein Film schaffen, das starke Unausgesprochene des Buches nachzuempfinden? Er schafft es natürlich nicht! Also ist meine klare Empfehlung das Buch: Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss. Wenn das gelingt (bei mir hat es durchaus etwas gedauert!), ist es eine literarische Perle, die sehr nachdenklich zurück lässt und von großem literarischem Können des Autors zeugt. Von mir sehr gerne 5 Sterne!