Rezension Rezension (5/5*) zu Charlotte: Roman von David Foenkinos.

Tiram

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4. November 2014
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Das Cover ziert ein

Das Cover ziert ein Selbstbildnis von Charlotte. Ernst schaut sie darauf aus. Ein schönes Leben hat sie aber auch nicht gehabt.

Als ich das Buch aufschlug, habe ich mich gewundert: Verse? David Foenkinos hat seine ganz eigene Art, über das Leben der Charlotte Salomon zu schreiben. Er erklärt es, und dann passt es auch. Ich empfinde jeden Satz wie in Stein gemeißelt. Keine Schnörkel. Nur, worauf es ankommt.

Zu Beginn erfahre ich, wie sich Charlottes Eltern kennengelernt haben. Als sie dann geboren wurde, bekam sie den Namen ihrer Tante Charlotte, Schwester ihrer Mutter, die von der Brücke ins eisige Wasser sprang und einen qualvollen Tod starb.
Als Charlotte neun ist, bringt sich ihre Mutter um, springt aus dem Fenster. Es liegt wohl in der Familie.

Das erste Weihnachtsfest ohne die Mutter. Charlotte spielt ein bisschen Theater, damit es nicht ganz so traurig ist.

Es ist 1930, der Vater lernt die Konzertsängerin Paula kennen und als er Charlotte eröffnet, dass sie heiraten werden, ist diese glücklich. Und mit Paula zieht Leben in die Wohnung. Kunst und Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Erich Mendelsohn oder Albert Schweitzer. Charlotte wird zur leidenschaftlichen Leserin: Goethe, Hesse, Remarque, Nietzsche und Döblin verschlingt sie regelrecht.
Doch sie hat keine Freunde. Nur Paula.

1933. Ein Jahr, bevor Charlotte ihr Abitur machen kann, muss sie die Schule verlassen. Der Hass gegen die Juden schlägt Wellen. Paula darf nicht mehr auftreten. Die vom Vater erbrachten medizinischen Leistungen werden nicht mehr abgerechnet. Bücher werden verbrannt.
Doch immer noch halten einige an dem Glauben fest, dass alles schnell vorbei geht. Doch Charlotte, jung wie sie ist, glaubt nicht daran.

[zitat]Das sind nicht ein paar Spinner, das ist ein ganzes Volk.
Das Land wird von einer gewalthungrigen Meute regiert.[/zitat]
In dieser Zeit entdeckt Charlotte ihre Liebe zur Malerei. Die Großeltern nehmen sie mit nach Italien, wo sie die Berufung zur Künstlerin spürt.

Zurück in Deutschland holt sie die Wirklichkeit ein. Die Großeltern verlassen das Land.

Warum glauben so viele zu dieser Zeit immer noch, dass alles gut wird?

Charlotte schafft es, an der Staatsschule für Freie und Angewandte Kunst zu studieren.

Und dann erfahren wir vom Autoren, wie er Charlotte gefunden hat. Und wie er gegrübelt hat, über sie zu schreiben:

[zitat]Dann fing ich an, mir Notizen zu machen.
Notizen über Notizen, jahrelang.
Ich blätterte dauern in meiner Ausgabe von Leben? Oder Theater?
Charlotte fand in meinen anderen Romanen Erwähnung.
Ich saß immer da und wollte dieses Buch schreiben.
Aber wie?
Durfte ich selbst darin vorkommen?
Konnte ich aus Charlottes Geschichte einen Roman machen?
Welche Form sollte das Ganze annehmen?
Ich schrieb, löschte, kapitulierte.
Ich brachte keine zwei Zeilen zu Papier.
Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken.
Es ging einfach nicht weiter.
Das war körperlich beklemmend.
Ich verspürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.
Um durchatmen zu können.

Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genau so schreiben musste.[/zitat]

Die Lage wird immer brenzliger. Kristallnacht. Der Vater wird abgeholt. In ein Lager gebracht und kommt nach Wochen wieder nach Hause. Paula kennt noch einige Leute, die ihr wohlgesonnen sind. Doch er ist kaum mehr zu erkennen.
Charlotte soll zu den Großeltern nach Frankreich. Sie brauchen lange, um sie zu überzeugen. Und sie gibt nur widerstrebend nach und verlässt das Land und ihren Liebsten Albert.

Doch auch in Frankreich marschiert der Feind ein. Um nicht verrückt zu werden, malt Charlotte. Malt ihr ganzes Leben. Und dann, bevor es zu spät ist:

[zitat]Nun steht Charlotte vor Moridis' Tür.
Sie läutet.
Der Doktor selbst macht ihr auf.
Ah... Charlotte, sagt er.
Sie erwidert nichts.
Sie schaut ihn an.
Und hält ihm ihren Koffer hin.
C'est toute ma vie, sagt sie schließlich.

Mordis haben wir es zu verdanken, dass wir diesen Satz kennen.
C'EST TOUTE MA VIE.
Das ist mein ganzes Leben.[/zitat]

Charlotte lernt Alexander kennen. Eine neue Liebe? Sie wächst nur sehr langsam. Und sie wird schwanger.

Die beiden heiraten und leben in der Villa L'Ermitage. Doch sie werden denunziert. Ein Anruf bei einem der grausamsten SS-Männer, Alois Brunner, ging ein und verrät die junge deutsche Jüdin.

[zitat]Der Lastwagen fährt leise vor.
Die Soldaten haben die Scheinwerfer abgeblendet.
Dann betreten sie von zwei Seiten den Garten.
Charlotte kommt gerade aus dem Haus.
Sie läuft den Soldaten regelrecht in die Arme.
Die Männer greifen zu, packen Charlotte am Arm.
Sie schreit aus vollem Hals.
Schlägt um sich, will weglaufen.
Einer der Männer zieht sie heftig an den Haaren.
Und tritt sie in den Bauch.
Charlotte fleht um Gnade, sie sei doch schwanger.
Ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen.
Den Männern ist das vollkommen egal.[/zitat]

Eingepfercht in einem Zug kommen Charlotte und Alexander in dem Durchgangslager Drancy an, dem Wartezimmer des Todes.

Dann müssen sie wieder in einen Zug. Drei Tage später sind sie am Ziel. Über einem Eingangstor ist zu lesen: Arbeit macht frei.
Bei der Registrierung werden Charlotte und Alexander getrennt. Alexander bricht nach drei Monaten tot zusammen.
Für Charlotte bleibt der Weg in die Duschbäder.

Und ich? Ich sitze hier und weine und weiß nicht, wohin mit meiner Wut.

Aber Charlotte hat ein Platz in meinem Herzen.


 
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Tiram

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Ist es nicht verrückt, @Renie, man weiß ja vorab schon, dass Charlotte nicht alt geworden ist und dass sie in Auschwitz umkam. Aber als das dann so detailliert beschrieben wurde, da hats mich weggerissen.

Mein Mann fragt mich immer, warum liest Du das. Ja, warum? Mich muss man doch nicht überzeugen, dass man Vergangenes nicht vergessen darf. Ich bin doch keiner von den Hornochsen, die die braune Vergangenheit ignorieren oder negieren.
Warum reicht es nicht, zu wissen, wie schlimm es im Allgemeinen war. Warum müssen wir lesen, wie schlimm es den einzelnen Opfern erging.

Und meine nächsten Bücher werden noch schlimmer. Da habe ich nicht nur die Buchstaben, da habe ich auch noch die Bilder vor Augen.

Manchmal gehen mir diese Fragen durch den Kopf. Muss ich mir das wirklich antun? Was wird besser oder schlechter an der Welt, wenn ich aufhöre, so etwas zu lesen. Erreichen wir mit unseren Buchbesprechungen nicht eh nur Leute, die ähnlich denken wie wir?
Wo wir, wenn überhaupt, doch die Volldeppen erreichen müssten.

So, jetzt hab ich mir mal alles runtergeschrieben, was mir grad so auf der Seele lag.
Es ist auch gar nicht schlimm, wenn mir niemand Antwort geben kann.