Rezension Rezension (5/5*) zu Hugo. Der unwerte Schatz: Erzählung einer Kindheit von Tino Hemmann.

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Buchinformationen und Rezensionen zu Hugo. Der unwerte Schatz von Tino Hemmann
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Das Buch hallt nach!

Uff. Es gibt (Hör-)Bücher, die lassen einen einfach nicht mehr los. Weder während der Lektüre noch danach. Dies ist so eines, und ich stehe noch vollkommen unter dem Eindruck des Geschehens. Und entgegen sonstiger Gewohnheiten fehlen mir hier erst einmal die Worte. Bis vielleicht auf eines: Respekt!

'Die Erzählung einer Kindheit' lautet der lapidare Untertitel des Buches, und auch der verschmitzt lächelnde Junge mit den Händen in den Taschen seiner Lederhose auf dem Cover deutet in seiner Harmlosigkeit in nichts auf das hin, was den Leser hier erwartet. Ich kann nur sagen: selten hat mich ein Buch derart beeindruckt.

Warum eigentlich? Schließlich schreibt Tino Hemmann hier über ein fiktives Kind, und auch die anderen Charaktere sowie viele der genannten Orte sind frei erfunden. Hugo heißt das Kind, wie der Titel bereits verrät - und es erlebt seine Kindheit im Nationalsozialismus. Mit seinen blauen Augen und den blonden Haaren könnte Hugo arischer nicht sein, und auch seine Noten in der Schule lassen nichts zu wünschen übrig. Doch Hugo ist anders, und dies, so wird Hugo wie dem Leser allmählich deutlich, ist fatal.

Bereits als Säugling wird Hugo von seinem Vater schwer misshandelt, und dies bleibt so, bis der Vater an die Front muss. Die Mutter schreitet nicht ein, verdrängt die Zeichen der Misshandlung und setzt ihren Sohn damit schutzlos dem Martyrium aus. Auch seine älteren Schwestern setzen sich nicht für den Jungen ein, drangsalieren ihn noch zusätzlich. Doch Hugo ist ein intelligentes Kind, und sein Gehirn findet einen Weg, mit den Schmerzen und den Erniedrigungen umzugehen. Es kreiert eine zweite Person, Fritz, der immer dann auftaucht, wenn Schweres zu ertragen ist. Fritz und Hugo sind unzertrennlich, doch außer Hugo kann niemand den anderen sehen. Mit ihm kann er sich unterhalten, wo doch sonst kaum jemand mit ihm redet, und ihm kann er bedingungslos vertrauen. Für alle anderen sieht es so aus, als führe Hugo Selbstgespräche.

Als Hugo in die Schule kommt, fallen zwei Dinge sogleich ins Auge: seine überragende Intelligenz sowie der unsichtbare Fritz, der Anlass gibt, den Jungen in einer Kinderpsychiatrie vorzustellen. Von da an ist Hugo zum Entsetzen seiner Eltern aktenkundig, muss immer wieder einmal zur Untersuchung, auch wenn er im Schulalltag rasch seinen Platz findet. Doch auch das offenkundige Wohlwollen des Lehrers kann nicht verhindern, was durch die Mühlen des Nationalsozialismus unaufhaltsam seinen Lauf nimmt. Ein ehrgeiziger Professor wird auf den sonderbaren Fall aufmerksam - und dank der neuen Euthanasiegesetze setzt er alles daran, Hugos Hirn persönlich untersuchen zu können - nach dessen postmortaler Entnahme.

Der Kloß im Hals wird beim Lesen / Hören immer größer. Man ahnt, worauf es hinausläuft und fühlt die Ohnmacht der Beteiligten. Hemmann schafft es, den Leser für diesen kleinen, ganz besonderen Menschen Hugo völlig einzunehmen. Immer wieder stößt der Junge auf wohlwollende Menschen, die versuchen ihm zu helfen, und doch rückt die Bedrohung der faschistischen Maschinerie immer näher. Zeitweise war dies nur schwer zu ertragen.

Der Autor präsentiert hier ein ergreifendes Einzelschicksal - eine zwar fiktive Biografie, die jedoch für unzählige reale Kinder steht, die während der Zeit des Nationalsozialismus als unwert deklariert und ermordert wurden - oftmals im Zeichen der Wissenschaft. Nicht alle genannten Orte sind fiktiv, und gerade ostdeutschen Lesern werden manche der Namen vertraut sein, auch wenn die Rolle der Einrichtungen während Hitlers Diktatur nicht jedem bekannt sein dürften. Hemmann lässt in die Biografie des Jungen immer wieder auch konkrete Details der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten einfließen, so dass die Einbindung von Hugos Schicksal in den geschichtlichen Hintergrund für den Leser jederzeit transparent ist. Auch die damalige Rolle der Kirche wird durch die Erzählung selbst sowie durch zusätzliche Erläuterungen sehr deutlich.

Das Ende - tja. Es ist was es ist. Es ist der Wahrheit geschuldet. Und der Menschlichkeit. Nur so wird das Entsetzen in seinem ganzen Umfang (be-)greifbar.

Bodo Henkel liest dieses ungekürzte Hörbuch (12 Std. 47 Min.) einfühlsam und unaufdringlich. Die tiefe sonore Stimme lässt den Hörer eher eine Märchenerzählung erwarten, und doch trägt sie eine Erzählung vor, die ungemein berührend und erschütternd ist.

Es ist dem Buch zu wünschen, dass es von vielen Lesern / Hörern entdeckt wird. Es gelingt Hemmann, die Zusammenhänge und geschichtlichen Hintergründe plausibel und nachvollziehbar zu präsentieren, und gerade auch für Schüler ist dies in meinen Augen eine überaus geeignete Lektüre, um die Grundlagen eines menschlichen Miteinanders zu begreifen. Das Buch bietet zahlreiche Erkenntnisse und Emotionen, mit denen der Leser sich auseinanderzusetzen hat und die einen nachhaltig beschäftigen.

Sehr beeindruckend. Sehr bewegend. Sehr empfehlenswert. Und 'Gegen das Vergessen' im Grunde eine Pflichtlektüre...



© Parden

von: Helene Henke
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von: Friedrich Christian Delius
 
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