Rezension Rezension (4/5*) zu Diese Dinge geschehen nicht einfach so: Roman von Taiye Selasi.

Renie

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19. Mai 2014
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eine Familiengeschichte

"Man lebt sein ganzes Leben in dieser Welt, in diesen Welten, und man weiß, was die Leute über einen denken, man weiß, was sie sehen. Man sagt, ich bin Afrikaner, und möchte sich dafür entschuldigen, will sofort nachschieben: Aber ich bin intelligent. Es gibt keine Wertschätzung. Man spürt es. ... Man will, dass sie einen für wertvoll halten, nicht staubig, nicht kaputt, nicht rückständig, stimmt's? Man will, dass es einem scheißegal ist, aber es ist einem nicht scheißegal, weil man Bescheid weiß, ... - man hat Angst vor dem, was sie denken, aber nicht sagen. Und dann, eines Tages, hört man es doch." (S. 383)

Die Geschichte beginnt mit einem Herzinfarkt. Während der letzten Momente in seinem Dasein, durchlebt Kweku Sai noch einmal einzelne Episoden seines 57-jährigen Lebens: in Ghana aufgewachsen, irgendwann nach Amerika ausgewandert, eine Ausbildung zum Chirurgen gemacht, geheiratet, 4 Kinder in die Welt gesetzt. Nachdem er beruflich scheitert, verlässt er seine Frau Fola und die Kinder und geht zurück nach Ghana. Fola wird sich ein Leben lang fragen, warum Kweku sie verlassen hat. Von dem beruflichen Misserfolg weiß sie nichts.
In Ghana lernt er seine zweite Frau Ama kennen. Er hat keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern.
Nachdem sie vom Tod ihres Vaters erfahren, reisen die Kinder nach Ghana. Hier treffen sie Fola, die ebenfalls vor einigen Jahren wieder zurück nach Afrika gegangen ist. Gemeinsam verbringen sie die Tage vor Kweku's Bestattung und arbeiten ihre Vergangenheit auf.

Anfangs hatte ich meine Schwierigkeiten mit diesem Buch. Der Schreibstil von Taiye Selasi ist gewöhnungsbedürftig, da sie sehr gern die Aneinanderreihung von Satzfragmenten als stilistisches Mittel einsetzt.
Hier ist ein Beispiel:
"Eine Frau. Die Stimme einer Frau. Die Liebe einer Frau. Die Liebe zu ihr und ihre Liebe. Eine Frau, zwei Frauen. Die Mutter und Geliebte, wo alles beginnt und endet, wie er es schon immer vermutet hat." (S. 31)

Im Verlauf der Geschichte habe ich mich an diesen Erzählstil gewöhnt. Ich musste sogar feststellen, dass dieser spezielle Stil dazu beigetragen hat, dass mich die Geschichte völlig in ihren Bann gezogen hat. Die Handlung entwickelt einen Sog, dem man sich als Leser nicht entziehen kann. Die Stimmung, die vermittelt wird, ist teilweise beklemmend, aber auch aufwühlend. Und oft verspürt man eine unterdrückte Wut, mit der dieser Roman erzählt wird.

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Jeder der Familie Sai kommt zu Wort und schildert Episoden aus der Vergangenheit. Leider gibt es dabei keine Chronologie. Man muss also beim Lesen höllisch aufpassen, um zu verstehen, in welchem Abschnitt der Familiengeschichte man sich gerade befindet.
Die Charaktere erschließen sich dem Leser erst im Verlauf der Geschichte. Aber eines ist von Anfang an klar: Jedes Mitglied der Familie Sai scheint psychische Probleme zu haben. Insbesondere die Kinder stehen unter einem enormen seelischen Druck. Sie konkurrieren untereinander, sind nicht in der Lage eigene Schwächen zu akzeptieren und versuchen, ihren Geschwistern nachzueifern. Eines haben sie gemeinsam: sie buhlen um die Zuneigung ihrer Eltern.

"Rasende Wut, aus dem Nichts. Sie schaut ihre Mutter an und spürt, wie die Wut in ihr aufsteigt, quälend und gleichzeitig peinlich, dass das ausgerechnet jetzt passiert, während die anderen lachen und ihre Trauer einen Moment beiseiteschieben, um Sadie zu feiern, kleine Sadie, südße Sadie, saubere Sadie, reine Sadie, niedlich wie ein Baby, das man einfach knuddeln will. Aus dem Nichts packt sie eine Wut jenseits aller Vernunft." (S. 340 f.)

"Familie" - ein Sinnbild für Geborgenheit, Fürsorge und emotionaler Bindung. Insbesondere Fola, die Mutter, versucht, dieses Bild aufrechtzuerhalten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Das Miteinander der Familie Sai hat wenig mit dieser Illusion zu tun. Erst zum Ende des Buches versteht der Leser, warum die Familie ist, wie sie ist. - "denn diese Dinge geschehen nicht einfach so."

Fazit:
Ein lesenswertes Buch mit einem gewöhnungsbedürftigen Erzählstil, das zum Ende trotz aller Tragödien, mit denen die Familie zu kämpfen hat, einen versöhnlichen Ausklang findet.

© Renie

 
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