Rezension Rezension (4/5*) zu Morgenland von Stephan Abarbanell.

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10. September 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Morgenland von Stephan Abarbanell
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Morgenland



1946 liegt Europa in Trümmern. Tausende von überlebenden jüdischen Flüchtlingen tauschen die Lager der Nazi gegen die Flüchtlingslager der Alliierten.
In Palästina wird der Wunsch der Juden nach einem eigenen Staat immer stärker, die Mandatsmacht der Briten wird zunehmend als Einengung und Bedrohung gefühlt. Junge Juden wollen nicht länger geduldig warten und gehen in den Untergrund um als Partisanen gegen die Briten zu kämpfen.
Großbritannien hat im Krieg einen hohen Blutzoll gezahlt und will nun im Nahen Osten keinen neuen Brandherd schaffen. Das fragile Gleichgewicht zwischen Arabern und Juden ist schon lange gestört, an einen gemeinsamen Staat ist schon seit Jahren nicht mehr zu denken. So versuchen die Briten mit Zuzugsbeschränkungen die jüdische Bevölkerung nicht weiter erstarken zu lassen.
In diese Gemengelage wird Lilya Wasserfall geworfen. Als Untergrundkämpferin will sie endlich eingesetzt werden, doch ihr Führungsoffizier überträgt ihr eine ganz andere Aufgabe. Sie soll im zerstörten Deutschland nach Raphael Lind suchen. Zwar gilt er schon seit 1941 tot, die Briten haben seinen Tod bestätigt, doch sein Bruder Elias, seit langem in Palästina ein bedeutender Schriftsteller, hat große Zweifel. Auf Umwegen kam ein Buch aus der Bibliothek ihres Vaters, des bekannten deutschen Wissenschaftlers, Chaim Lind, in seine Hände. Er findet ein Foto darin und eine winzige Bleistiftnotiz, die ein Chiffre ist. Daraus schließt er, dass sein Bruder noch lebt und obwohl sie als Kinder und junge Erwachsene nie eine enge Bindung hatten, ja unterschiedlicher als die Beiden, könnten Brüder kaum sein, will er Gewissheit haben.
Mit der Tarnung einer jüdischen Hilfsorganisation reist Lilya nun über London nach Deutschland und sieht eine Trümmerlandschaft, die sie sich nicht vorstellen konnte. Auch merkt sie bald, dass sie in das Visier des britischen Geheimdienstes geraten ist, der all ihre Schritte überwacht. Allmählich wird ihr klar, dass hinter dem Verschwinden und dem – angeblichen – Tod von Raphael Lind mehr steckt.
Aber auch dem Elend in den Flüchtlingslagern kann sie sich nicht verschließen. Was als Tarnung gedacht war, wird ihr auch zur Verpflichtung. Sie kann das Geschacher um Medikamente, Nahrung und Feldbetten nicht verstehen und die gleichzeitige Weigerung der Staatengemeinschaft, den jüdischen Menschen eine neue Heimstatt zu geben. Dabei lernt sie viele engagierte Menschen kennen, Dave Guggenheim ist einer davon, dessen Schicksal enger mit ihrem Auftrag verknüpft ist, als sie ahnt.
Lilya ist als Mädchen nach Europa gegangen, als Frau kehrt sie nach Palästina zurück, so drückt es ein väterlicher Freund aus. Die Personen um Lilya haben viel Tiefe und manchen Lebensweg hätte ich gerne weiter verfolgt, aber das hätte den Rahmen gesprengt, auch so ist der Roman vielschichtig. Die vielen Handlungsstränge, die meinen Lesefluss manchmal etwas hemmten, gäben Stoff für ein weiteres Buch. Das Thema ist ein Zeitfenster in der Geschichte, die Fehler die die Staatengemeinschaft in Palästina machten, wirken sich noch heute in den Nahostkonflikten aus. Immer wieder drängten sich mir die Parallelen zu heute auf, auch jetzt haben wir Flüchtlingslager und kämpfen um Betten und Medikamente, während die Staaten konferieren und diskutieren und uneins bleiben.
Ein Roman mit historischem Hintergrund, der leider eine ungeheure Aktualität bekommen hat und absolut lesenswert ist. Die am Schluss des Buches abgedruckten Fotos und Dokumente runden das Buch noch ab.

 

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