Rezension Rezension (4/5*) zu Sungs Laden: Roman von Karin Kalisa.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Revolution am Prenzlauer Berg...


Im Dezember findet alles seinen Anfang. Eine Grundschule im Prenzlauer Berg ruft eine 'weltoffene Woche' aus. Der Schulamtsleiter hatte dies angeordnet, weil ein paar Sechstklässler einen Zweitklässler aus Gambia drangsaliert hatten. Dem Direktor passt das gar nicht, denn schließlich haben die Lehrer genug zu tun mit den Weihnachtsbasteleien und Adventsfeiern. Um den Aufwand möglichst gering zu halten, sollen alle Kinder mit Migrationshintergrund etwas aus ihrer Hintergrundkultur mitbringen und in einem kleinen Festakt in der Aula präsentieren.
Doch nicht nur die Lehrer bringt dieses Ansinnen zum Schwitzen, auch die Schüler müssen grübeln, welches Mitbringsel denn dafür geeignet wäre. Minh, einem kleinen vietnamesischen Jungen, fällt dazu erst einmal gar nichts ein.


"Ein Kulturgut?" Sung schaute Minh fragend an."Na, eben ein Ding, irgendetwas, das aus Vietnam kommt. Alles, nur nichts zu essen." (S. 13)


Doch auch Sung ist ratlos, und so schickt er seinen Sohn weiter zur Großmutter. Und am nächsten Morgen schleppen ein kleiner vietnamesischer Junge von knapp acht Jahren und eine kleine vietnamesische Frau von knapp sechzig Jahren eine große hölzerne Holzpuppe von mehr als achtzig Jahren zwischen sich den Gehweg zur Schule entlang. Vor den beiden stellen schon einige andere Schüler ihre 'Dinge der Welt' vor, und in den Stuhlreihen herrscht einges an Unruhe.


"Da straffte sich Hiềns kleiner Körper und ohne Vorwarnung gellte ihre durchdringende, ein bisschen raue Stimme durch den Raum: 'Good Morning, Vietnaaaaaaam!' " (S. 19)


Und mit nun ungeteilter Aufmerksamkeit verfolgen Schüler wie Lehrer das Spiel der alten Puppe, die mit Hiền deren Geschichte erzählt - vom Krieg in Vietnam, Nord gegen Süd, von großer Armut, von einem Leben als Vertragsarbeiterin in der DDR, von der Lieblosigkeit der Bedingungen zu der Zeit. Und diese Geschichte, dieser Auftritt ist wie der Flügelschlag eines Schmetterlings - leise aber unbeirrbar wird eine Lawine losgetreten.

Kegelhüte tauchen plötzlich im Straßenbild des Prenzlauer Bergs auf, Bambusbrücken verbinden Gebäude und Kulturen, die Hồ-Chí-Minh-Flagge weht auf dem Bezirksamt. Am Prenzlauer Berg wächst zusammen, was zusammengehört - die Grenzen zwischen den Kulturen verschwimmen.

Ein schönes Märchen hat Karin Kalisa da geschrieben, eine Utopie, sicherlich. Schnörkellos und doch warmherzig, humorvoll, skurril und liebenswert skizziert sie eine hoffnungsvolle Vision des Zusammenlebens verschiedener Kulturen, die gerade angesichts heutiger Probleme hoffnungsfroh stimmt.


"Ihre Wege kreuzten einander an einem Punkt mehr oder minder kurz nach der Mitte des Lebens; gerade dort, wo das Leben begann, etwas weniger von ihnen zu fordern, und sie spürten, dass es gar nicht so falsch wäre, den Spieß noch einmal umzudrehen und selbst ein paar kleine Forderungen zu stellen." (S. 88)


Für alle weht ein frischer Wind durch den Prenzlauer Berg, eine Aufbruchstimmung, die jeden dort mitreißt. Ein wenig schade, dass die Autorin zunehmend versucht, dieses 'alle und jeden' auch in der Erzählung festzuhalten, den Staffelstab des Miteinanders an immer neue Personen weiterzureichen und die Geschichte sich dadurch für mich ein wenig zerfasern lässt. Lieber wäre mir gewesen, wenn Sung und seine Familie mit einigen anderen Charakteren im Fokus der Geschehnisse geblieben wären.

Dennoch konnte mich die Idee begeistern und die Leichtigkeit und Poesie der Sprache in ihren Bann ziehen. Eine kleine, stille Revolution, die niemandem wehtut. Ein schönes Märchen, aber eines, das eben wirklich sein KÖNNTE... Es bringt Farbe in unser ewiges Nebeneinander. Und das hat mir gefallen!


© Parden