Rezension Rezension (5/5*) zu Delirium (Amor-Trilogie, Band 1) von Lauren Oliver.

Mikka Liest

Bekanntes Mitglied
14. Februar 2015
1.513
2.403
49
Hilter am Teutoburger Wald
wordpress.mikkaliest.de
Eine Welt, in der die Liebe das schlimmste Verbrechen ist...

Die Grundidee der Geschichte fand ich sehr spannend und originell: In der Zukunft ist Liebe nichts Schönes mehr, nichts Erstrebenswertes - sondern etwas Gefährliches, Verachtenswertes, beinahe schon Ekelhaftes. Das jedenfalls wird jungen Menschen von klein auf immer wieder gepredigt; sie lernen es im Kindergarten, in der Schule, im Elternhaus, überall... Die Liebe ist böse. Die Liebe ist gefährlich. Die Liebe ist heimtückisch. Die Liebe tötet.

Aber es gibt Hoffnung, zwangsverabreicht kurz vor dem achtzehnten Geburtstag: eine Operation, ganz schnell, ganz einfach. Ein kleiner Schnitt im Gehirn hier, ein kleiner Schnitt da, und schon kann man keine Liebe mehr empfinden. Man ist sicher, für alle Zeit. Man muss keine Angst mehr haben.

Nach dem Eingriff bekommt man einen Ehepartner und einen Beruf zugeteilt - sogar die Anzahl der Kinder wird vorgeschrieben, denn da es keine Elternliebe gibt, hätte sonst niemand die Motivation, Kinder zu bekommen.

Die Regierung beherrscht ihre Bürger mit mit totalitärem Terror. Für alles gibt es Regeln, und schon die kleinste Übertretung kann den Tod oder eine lebenslange Haftstrafe bedeuten. Man darf das Wort \"Liebe\" nicht mal aussprechen, geschweige denn körperliche Zuneigung zeigen, wie Umarmen oder gar Küssen. Alles muss von der Regierung erst genehmigt werden: Filme, Musik, Bücher... Und die Regierung sieht alles, immer und überall.

In dieser Welt ist Erwachsenwerden wie ein Spaziergang durch ein Minenfeld. Lena, durch deren Augen wir die Geschichte sehen, freut sich richtig auf ihren Eingriff, der alles einfacher und sicherer machen wird. Sie hat ihr halbes Leben in panischer Angst vor der Amor Deliria Nervosa verbracht, die ihr schon die Mutter und die Tante geraubt hat. Das freudige Ereignis ist schon ganz nahe... Doch dann trifft sie den geheimnisvollen Alex und \"infiziert\" sich.

Auf den ersten Blick wirkt Lena wie ein schwacher Charakter. Sie scheint die Propaganda der Regierung fraglos zu schlucken, und es dauert sehr, sehr lange, bis sie endlich beginnt, die Dinge zu hinterfragen. Bis sie begreift, dass nicht die Liebe das Problem ist, sondern das Verbot der Liebe! Aber das fand ich eigentlich nur realistisch, schließlich hat sie 17 Jahre lang in einer Gesellschaft gelebt, in der die Menschen quasi eine ständige Gehirnwäsche durchlaufen.

Nach und nach kommt Lena aus sich heraus und man merkt, was für eine wache Intelligenz sie eigentlich besitzt, wie aufmerksam und genau sie beobachtet - und wie loyal und mutig sie ist. Immer mehr stellte ich fast, dass sie sogar ein sehr starker Charakter ist, mit dem ich wunderbar mitfühlen und mitleiden konnte.

Alex ist der Junge, in den sich Lena verliebt. Ich möchte noch nicht viel über ihn verraten, aber ich fand ihn einfach wunderbar: er ist liebevoll, geduldig, intelligent, verschlingt verbotene Bücher (vor allem Gedichte) und versucht wirklich, Lena zu nichts zu drängen. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden ist rührend und zart und wirkt vor dem Hintergrund einer grauen, gefühllosen Welt unendlich kostbar.

Hana ist Lenas beste Freundin. Sie ist eigentlich die \"Wilde\" der Beiden - diejenige, die verbotene Musik hört und sich nachts aus dem Haus schleicht. Lena war immer ihr Ruhepol, das verlässliche graue Mäuschen, und so ist es für Hana eine große Überraschung, wie ihre Freundin sich entwickelt!

Ich fand es sehr gekonnt, wie die Autorin den Unterschied herausarbeitet zwischen den \"gefährdeten\" Jugendlichen, die noch vor Leben und Leidenschaft sprühen, und den \"geheilten\" Erwachsenen, die flach, austauschbar und stumpfsinnig wirken.

\"Delirium\" ist eine Liebesgeschichte, und gleichzeitig eine Geschichte über freien Willen und Selbstbestimmung. Immer wieder taucht die Frage auf, ob die Liebe den Schmerz wert ist, und das ist im Endeffekt auch genau das, was Lena lernen muss: ein Leben, in dem jedes Gefühl abgestumpft ist, bringt vielleicht keinen Schmerz, ist aber auch nicht mehr lebenswert.

Der Schreibstil von Lauren Oliver hat mich sehr beeindruckt. Er ist voller Sätze, die man ein zweites oder ein drittes Mal lesen muss, weil sie so perfekt sind! Sie beschwören in eindrucksvollen, einfallsreichen Bildern Atmosphäre herauf und vermitteln Emotionen, glasklar und fast schon schneidend intensiv. Und es sind die vielen kleinen, durchdachten Details, die die Welt, die die Autorin sich ausgedacht hat, so glaubhaft und lebendig machen.

Fazit:
\"Delirium\" ist der packende, wunderbar originelle erste Band einer dystopischen Trilogie für junge Leser(innen). In einer Welt, in der die Liebe als tödliche Krankheit gilt und streng verboten ist, in der die Regierung jedes kleinste Detail des Lebens bestimmt, von der Berufswahl über den Ehepartner bis zur Anzahl der Kinder, muss sich die junge Lena entscheiden, ob sie sich anpassen will, oder ob sie für ihre Liebe und ihre Freiheit alles opfert - vielleicht sogar ihr Leben.