Rezension Rezension (4/5*) zu Der Schneesturm: Roman von Vladimir Sorokin.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Symbolbefrachtete Literatur...

Der Landarzt mit dem eigentümlichen Namen Platon Garin will so schnell wie möglich in das entlegene Dorf Dolgoje gelangen, um die dort ansässigen Menschen gegen eine rätselhafte Epidemie zu impfen, die bereits einige Opfer gefordert hat. Allerdings scheint der Schneesturm eine Weiterfahrt unmöglich zu machen. Garins Pferde sind erschöpft, in dem kleinen Ort findet er nicht wie erhofft Pferde zum Wechseln, doch die Zeit drängt. Glücklicherweise kann er den Brotkutscher Kosma, genannt Krächz, aus seinem Schlaf auf dem warmen Ofen wecken und ihn überreden, ihn in das nunmehr noch 17 Kilometer entfernte Dolgoje zu kutschieren.
Mit dem von 50 rebhuhngroßen Pferdchen gezogenen Schneemobil machen sich Garin und Krächz auf den Weg, müssen jedoch blad schon erkennen, dass der anhaltende Schneesturm nicht nur die Sicht erschwert. Immer wieder kommt es zu ungeplanten Komplikationen, Garin und sein Kutscher kommen einfach nicht an. Und ungeahnt entpuppt sich das, was wie eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert beginnt, als eine fantastisch-märchenhafte Irrfahrt durch ein rückständiges Russland, das gleichzeitig mit Zutaten einer Hochtechnologiegesellschaft versehen ist.

Eine verwirrende Mischung hat Sorokin da geschaffen, sprachlich an alte russische Meister der Literatur erinnernd, durchzogen von einem Hauch russischer Seele - Wodka, heißer Tee und ein wenig Schwermut. Eingängige Bilder werden in den Kopf des Lesers projeziert, aber verstörende zuweilen. Relikte der Vergangenheit - alte mit Holz geheizte Öfen, von Pferden gezogene Kutschen, der Kneifer auf der Nase oder die Fußlappen, damit die Füße in den Fellstiefeln nicht erfrieren - treffen unvermittelt auf technologische Errungenschaften, die es heute teilweise noch nicht einmal gibt. Historische Science Fiction?
Aber nein, hinzu kommen noch Elemente aus Märchen und Fantasy - Zwergen und Riesen gibt es dort ebenso wie lebendgebärenden Filz oder Zombies. Ein sprachlich versiertes Spiel mit Realität und Fantasie - und mit einer überbordenden Symbolik.

Ein wenig fühlte ich mich beim Lesen an meine Schulzeit erinnert: erst mit Hilfe einer im Umfang doppelt so dicken Interpretation wird der eigentliche Text verständlich - und selbst dann womöglich nur rudimentär. Aber angesichts der durchweg positiven Bewertungen des Buches hatte ich das Gefühl, es könnte sich lohnen, sich ein wenig intensiver mit der Erzählung Sorokins zu befassen.

\"Grundsätzlich ist es ja so, dass Russland in einer weit entfernten Vergangenheit lebt, und davon erzählt mein Roman\", so erklärt der Schriftsteller selbst zu seinem Buch \'Der Schneesturm\' in einem Video, das ich bei Youtube gefunden habe.



Einen Roman über den Stillstand und die Erstarrung in Russland wollte Sorokin hier präsentieren, so erfährt man weiter. Das Buch: eine ironisch-bittere Metapher für ein Land, das den Weg in die Moderne einfach nicht findet.

\"Wenn man heute die Machthaber in diesem Land sieht, die Elite Russlands, die fahren Mercedes, telefonieren mit Smartphones usw., aber mental und kulturell stehen sie im 16./17. Jahrhundert. Ich habe den Eindruck, Russlands Zukunft: das ist unsere Vergangenheit plus Hochtechnologie.\"

Keine Brechstange gegen die herrschenden Verhältnisse stellt seine Literatur nach seinen eigenen Angaben dar, doch Sarokin ist in der Tat ein hochpolitischer Autor. Vor einigen Jahren wurden seine Bücher in einem riesigen Klo öffentlich versenkt - eine Aktion auf Betreiben von Putins Jugendorganisation. Heute lebt der Autor in Berlin.

Das Buch war in jedem Fall ein beeindruckendes, eines, das ich in einem Zug gelesen habe, das mich hineinzog in die schneebedeckten Weiten Sibiriens und mich entführte in eine fremdartige Welt, und mich verwirrte, begeisterte, beschäftigte. Das ist mehr als es manch anderes Buch vermag. Gerne mehr davon!


© Parden

 
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Helmut Pöll

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9. Dezember 2013
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Ich bin bei "Der Schneesturm" hin und her gerissen. Einerseits gefällt mir diese märchenhafte Umgebung. Andererseits hört der Roman aber einfacgh an einer beliebigen Stelle auf, so dass man als Leser fragt: und jetzt?

Klar kann man mit viel Sekundärliteratur viele Parallelen zur russischen Gegenwart ziehen. Meine anfängliche Begeisterung hat sich dann doch etwas gelegt, @parden
 
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