Rezension (4/5*) zu Die Sehnsucht der Albatrosse von Karin Seemayer

M

Mikka Liest

Gast

Manchmal erinnert "Die Sehnsucht der Albatrosse" ein wenig an Jack Londons "Seewolf" (bzw dessen Verfilmung von 1971)! Schließlich wird auch in diesem Klassiker der Abenteuerliteratur ein Schiffbrüchiger von einem Robbenfänger aufgelesen, gezwungen, an Bord zu bleiben, und arbeitet später mit dem grimmigen Smutje in der Bordküche. Also genau das, was Sarah hier passiert!

Und so, wie Londons Held Humphrey im hartherzigen Kapitän Larsen einen alten Jugendfreund erkennt, findet Sarah in Kapitän Brandon ihre einstige Jugendliebe wieder. Auch im "Seewolf" gab es schon eine romantische Dreieckskonstellation zwischen Kapitän Larsen, dem Helden Humphrey und der Schiffsbrüchigen Maud - hier sind es Kapitän Brandon, der Matrose Peer Svensson und die Protagonistin Sarah Tanner.

Vielleicht liegen diese Übereinstimmungen unter Anderem daran, dass sowohl Jack London als auch Karin Seemayer von Kapitän Alexander McLean inspiriert wurden, einem berühmten, real existierenden Robbenjäger? Auf jeden Fall gibt es neben den Gemeinsamkeiten genug Unterschiede, um das Buch zu mehr als nur einem Abklatsch des Klassikers zu machen! Ja, auch hier gibt es Abenteuer, Gefahren, romantische Verwicklungen und man erfährt viel über das harte Leben der Männer, die ihr Geld mit der Robbenjagd verdienten... Aber alleine schon dadurch, dass wir die Geschehnisse hauptsächlich aus weiblicher Sicht sehen, hat "Die Sehnsucht der Albatrosse" eine ganz andere Atmosphäre, die Schwerpunkte liegen auf anderen Aspekten und die Liebesgeschichte ist zentraler und sowohl romantischer als auch zartfühlender geschrieben.

Karin Seemayer schreibt über starke, zwiespältige Charaktere, die sich nicht so einfach in gut oder böse einteilen lassen. Kapitän Brandon ist hart und manchmal sogar grausam, kann selbstsüchtig und skrupellos sein, aber er ist auch intelligent und hat durchaus die Kapazität für Mitgefühl und mitmenschliches Verständnis. Durch Sarah erfährt man, wie schwer sein Leben in seiner Jugend war, und man kann sich denken, wie sehr ihn das zweifellos abgehärtet und gestählt hat...

Sarah selber wollte eigentlich Ärztin werden und war als junge Frau fest entschlossen, für ihr Ziel zu kämpfen - und doch war ihr Leben geprägt von Kompromissen, so dass sie sogar einen Mann heiraten musste, den sie nicht liebte. Statt Ärztin zu werden, konnte sie ihrer Familie nur eine Karriere als Opernsängerin abtrotzen, und dass auch nur unter der Bedingung, dass sie nicht unter ihrem echten Namen auftritt. Eine interessante Mischung aus Selbstbewusstsein und Zweifeln, rebellischer Freigeistigkeit und Standesbewusstsein machen sie zu einer ungewöhnlichen Frau, die mir mehr und mehr ans Herz gewachsen ist.

Peer Svensson ist von der ersten Seite an ein sympathischer junger Mann, der einerseits durch und durch zuhause ist in der rauen Männerwelt der Seefahrt und sich andererseits als sensibler, emotionaler Mensch mit einem stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn herausstellt.

Sogar der sadistische Widerling Andersen, der Sarah, Peer und dem armen Schiffsjungen Willy das Leben zur Hölle macht, ist nicht nur böse - wobei die Autorin das eher andeutet und es dem Leser überlässt, sich den Rest zu denken. Von den Nebencharakteren sind manche sympathisch, manche eher nicht, aber bei den meisten kann man zumindest erahnen, dass sich hinter dem ersten Eindruck mehr verbirgt und dass sie komplexe Charaktere mit ihren ganz eigenen Stärken und Schwächen sind.

Ich fand die Geschichte sehr spannend. Zum einen wollte ich wissen, wie Sarah sich an Bord zwischen all den rauhbeinigen Matrosen behaupten würde, und dann wollte ich natürlich sehen, wie sich ihre Beziehung zu ihrer ehemaligen großen Liebe, Kapitän Brandon, entwickeln würde - und die zu Peer Svensson, der so überhaupt gar nicht ihrem Stand entspricht, aber ihr Herz zum Singen bringt. Außerdem möchte man als Leser erfahren, warum der Schiffsjunge Willy so verschreckt ist, warum der Schiffskoch überhaupt nicht kochen kann, und ob es Peer gelingen wird, sich gegen Steuermann Andersen zu behaupten... Viele kleine und große Dinge, die die Geschichte abrunden und vielschichtiger machen. Dazu kommt noch, dass die Robbenjagd nicht gut läuft und Brandon gefährliche, illegale Maßnahmen in Erwägung zieht, was wiederum beinahe zu einer Meuterei führt!

Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Er ist bildhaft und lässt wunderbar die Welt an Bord der Victory vor dem inneren Auge auferstehen. Das Knarzen des Schiffs und das Heulen des Windes, der salzig-bittere Geruch der Brandung und der süßliche Gestank von Blut... Der Schreibstil spricht alle Sinne an.

Die Liebesgeschichte fand ich rührend und richtig schön. Dabei ist die Atmosphäre an Bord eines Robbenfängers alles Andere als romantisch, und dann gibt es auch noch einen ganzen Haufen anderer Hindernisse und sogar Gefahren! Dazu kommt noch, dass Sarah als Tochter aus gutem Hause ganz andere Vorstellungen von Romantik hat als ein einfacher Seemann, dessen Kontakte zu Frauen sich normal auf kurze Bordellbesuche beschränken... Aber gerade dieser Kontrast sorgt für zusätzliche Spannung und macht die Liebesgeschichte außergewöhnlich und interessant! Außerdem gleitet sie dadurch nicht in kitschigen Schmalz ab...

Fazit:
Eine junge Opernsängerin findet sich jäh wieder unter rauhbeinigen Matrosen und erlebt ein spannendes Abenteuer voller Gefahren, Intrigen, Seemannsgarn - und Liebe. Auch wenn ich mich öfter an Jack Londons "Seewolf" erinnert fühlte, hat die Geschichte doch genug originelle Einfälle und farbenfrohe Charaktere, um Leser etwas ganz Eigenes zu bieten.

Mikka Liest

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