Rezension Rezension (3/5*) zu Der Abstinent: Roman von Ian McGuire.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Abstinent: Roman von Ian McGuire
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Eintauchen ins Manchester des Jahres 1867


Ian McGuire ist mir durch seinen düsteren Roman „Nordwasser“ ein Begriff, den ich mit großer Begeisterung gelesen habe und der auch für den Bookerpreis nominiert wurde. Sein neues Werk „Der Abstinent“ führt den Leser in die dunklen, nebligen Straßen der Industriestadt Manchester des Jahres 1867. Man kann diese dichte Atmosphäre sehen, riechen und fühlen. Viele Menschen müssen hart arbeiten, kommen aber trotzdem mehr schlecht als recht über die Runden und leiden Hunger. Zahlreiche irische Arbeiter sind nach England gekommen. Zwischen den beiden Nationalitäten brodelt es aber gewaltig: Die Iren kämpfen für die Unabhängigkeit und gegen die Unterdrückung, die englische Staatsgewalt will dies verhindern. Im Polizeirevier sitzt unter anderem Constable James O´Connor, der selbst aus Dublin stammt, jedoch von dort weg versetzt wurde. Seinerzeit hatte er den Tod von Frau und Kind nicht verkraftet und war dem Alkohol verfallen. In Manchester will er neu anfangen. Leider sind die meisten Kollegen ihm gegenüber kritisch eingestellt. Er wird ausgegrenzt und gemobbt, was ihn fast zum Einzelgänger macht. Er ist eine gebrochene, schwermütige Figur:

„Meistens fühlt er sich, als würde er auf einem Hochseil balancieren, vorsichtig einen bestrumpften Fuß vor den anderen setzen und niemals hinabsehen. In England ist er sicher besser dran, wo ihn niemand kennt, sich niemand für ihn interessiert, wo er frei von Vorgeschichte und Erwartungen ist, aber wie lang kann dieser Hochseilakt noch gut gehen und wie wird er enden? Wird er wirklich bis zum Ende seiner Tage hier in seinem einsamen Exil bleiben und Karten im Enthaltsamkeitscafé spielen?“ (S. 38)

Die Fenians, eine geheime irische Bruderschaft, haben gerade Verstärkung aus Amerika bekommen: Der skrupellose Kriegsveteran Stephen Doyle kam mit dem Schiff aus New York und soll den irischen Widerstand in Manchester organisieren. Nachdem vor Kurzem erst drei Iren wegen eines angeblichen Mordes zum Tode verurteilt wurden (die Hinrichtung der drei „Manchester Martyrs“ am 22.11.67 ist historisch verbürgt), soll Doyle den Rachefeldzug organisieren. O´Connor ist sein Gegenspieler, der durch Bezahlung versucht, Spione in den Reihen der Bruderschaft zu installieren, deren Kontaktmann er ist. Durch eine Ungeschicklichkeit des Constables geraten deren Namen an die Bruderschaft. Doyle zögert nicht lange und liquidiert die Delinquenten auf bestialische Weise. O´Connor fühlt sich schuldig.

Nun ist guter Rat teuer. Zum Glück trifft O´Connors Neffe Michael Sullivan, frisch aus New York angereist, ein. Während der Überfahrt hat er zufällig Doyle am Spieltisch kennengelernt. Was liegt nun näher, als den übermotivierten jungen Mann in die Reihen der Fenians einzuschleusen, die dabei sind, ihren großen Coup zu planen?

Was folgt, ist ein kurzweiliger Spannungsroman mit historischem Setting. Gut und Böse sind ziemlich klar definiert. Jedoch ist O´Connor eher ein Antiheld und auch für Doyle kann man zeitweise Sympathien entwickeln. O´Connor macht Fehler, begeht Indiskretionen, die zum Tod unschuldiger Männer führen. Später wird er sogar, was den Alkohol betrifft, rückfällig und vernachlässigt seine Pflichten. Das lässt ihn zwar menschlich erscheinen, schwächt allerdings auch sein Ansehen bei Kollegen und Vorgesetzten weiter. Probleme sind vorprogrammiert.

Der Leser ist stets und überall dabei. Der Roman ist sehr dialoglastig, es gibt nur relativ wenige beschreibende Passagen. Während der vielen Gespräche bekommt man alles mit, was man über die Figuren oder die irische Bruderschaft wissen soll. Wer sich umfassendes Hintergrundwissen über den irisch-englischen Konflikt in Gänze erhofft hat, wird enttäuscht sein. Die Handlung dreht sich überwiegend um das Spannungsfeld vor Ort. Der Neffe erfährt, was die Fenians planen, mutig recherchiert er auf eigene Faust, tritt in Bedrängnis gebracht auch noch der Bruderschaft bei.

Manche Szenen entbehren nicht jeglicher Komik. Man sollte überhaupt nicht alles so ernst nehmen und auf Plausibilität überprüfen wollen. Die Figuren sind weit davon entfernt, perfekt zu sein. Sie verhalten sich ungeschickt, es ergeben sich Verwicklungen, Zufälle kommen zur Hilfe, mal für die eine, mal für die andere Seite. Am Ende mündet alles vorhersehbar in einen Schlagabtausch zwischen O´Connor und Doyle. Die beiden werden sich um die halbe Erde verfolgen und vermutlich kann nur einer gewinnen. Auch die Nebenschauplätze wirken authentisch. Darin sehe ich die Stärke des Autors: Egal ob irisches Pub, Behausungen, Gefängnis, Gerberei, Bleimine oder Farm – McGuire kann all das so authentisch und bildreich beschreiben, dass die Vorstellungskraft des Lesers regelrecht befeuert wird. Manche Metaphern wirken allerdings bei näherer Betrachtung etwas verunglückt und gewollt. Man sollte eben nicht so genau hinschauen.

„Der Abstinent“ ist ein spannender historischer Schmöker, der sich flüssig lesen lässt und ein breites Publikum finden sollte. Vieles hat man so oder ähnlich schon gelesen. Wenn man aber denkt, dass einen nichts mehr im Ablauf überraschen könnte, zieht der Autor nochmal alle Register: Das Ende hat es in sich und hat mich nochmal richtig aus dem Sessel gehoben. Chapeau, Mr. McGuire!

Leider ist es mir nicht gelungen, über die genannten Schwächen in der Konzeption hinwegzusehen. Insofern war es für mich ein nettes Buch ohne Höhen und Tiefen. Man kann es lesen, muss es aber nicht.