Rezension Rezension (4/5*) zu Der steinerne Engel: Roman von Margaret Laurence.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Rückblick auf das Leben einer eisernen Lady

Der vorliegende Roman erschien bereits 1965 in deutscher Sprache, gilt als kanadischer Klassiker und wurde nun vom Eisele-Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt. Margaret Laurence ist neben Margaret Atwood und Alice Munro eine bedeutende Autorin Kanadas.

Im Mittelpunkt des Romans steht Ich-Erzählerin Hagar Shipley, eine 90-jährige alte Dame, die seit etlichen Jahren bei ihrem Sohn Marvin und Schwiegertochter Doris lebt, die sich um sie kümmern. Das Alter hat sie doch recht hinfällig werden lassen. Eigen- und Fremdwahrnehmung gehen dabei stark auseinander: Während ihre Angehörigen sich durch die Pflege der alten Dame an ihre Grenzen geführt sehen, fühlt sich Hagar schlecht behandelt und ist der Meinung, die beiden trachteten nur nach ihrem Vermögen und wollten sie abschieben. Zunächst nimmt man das der Erzählerin auch ab, zunehmend häufen sich allerdings die Indizien, dass Hagar die Opferrolle gar nicht so gut steht – diese sich entwickelnde Diskrepanz war für mich eine bemerkenswerte Lese - Erfahrung.

Die Handlung findet auf zwei Ebenen statt: Die besagte Gegenwart der alten Dame, die zunächst überwiegend in ihrem Zimmer stattfindet, in dem sie viel Zeit zum Nachdenken hat. Kleine Denkanstöße oder Anlässe führen sie in die Vergangenheit, die zweite Ebene des Romans: Hagar wird als Tochter eines Gemischtwarenhändlers im fiktiven Prärieort Manawaka geboren. Ihre Mutter verstirbt früh, die beiden Brüder können die Hoffnungen des strengen Vaters nicht erfüllen, Hagar darf es aufgrund ihres Geschlechts nicht. Aus Opposition und einer Laune heraus heiratet sie den liederlichen Farmer Bram Shipley. An seiner Seite muss sie ein arbeits- und entbehrungsreiches Leben führen, zumal ihr Vater sie mit aller Konsequenz enterbt. Sie bekommt zwei Söhne, einen davon liebt sie mehr als den anderen…

Hagar schaut sehr ehrlich auf die Stationen ihres Lebens zurück. Sie schildert ihre persönliche Sicht auf das Erlebte ohne Sentimentalität. Man nimmt sie stets als starke, unnachgiebige und resolute Frau wahr, die immer weiß, was sie will. Als Mutter ist sie hart, übernimmt unbewusst die Fehler ihres Vaters, indem sie ihre Kinder bevormundet und ihnen ihren Weg vorzuschreiben versucht – was fatale Folgen hat. Sie kann arbeiten bis zum Umfallen, kommt gegen ihren Ehemann aber nicht an. Auch in der Liebe verhindert ihr Stolz eine erfüllte Zweierbeziehung. Hagar hat nicht viel für die Gefühle anderer Menschen übrig. Sie empfindet Verachtung für all jene, die erfolgreicher durchs Leben gehen als sie. Sie kann die Überheblichkeit und Arroganz ihrer wohlhabenden Kindertage nie richtig überwinden. Sie hat niemals Freunde, hohe Ansprüche an andere und grundsätzlich wenig Verständnis.

Aus diesen Gedankenströmen wird man als Leser immer wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Die Schwiegertochter möchte, dass Hagar ins Altersheim Silberfaden übersiedelt. Die alte Frau ist weit hinfälliger, als sie zugibt, außerdem leidet sie an einer beginnenden Demenzerkrankung. Doris schafft die Pflege nicht mehr. All das will Hagar nicht wahrhaben. Sie revoltiert und bricht zu einem gewagten Ausflug an einen Ort auf, an dem sie früher einmal glücklich war. Bereits zum zweiten Mal will sie ihrem Leben eine entscheidende Wendung geben – eine Unternehmung, die durchaus gefährlich für sie ausgehen kann…

Der Roman beginnt gemächlich, besticht aber von Beginn an durch wunderschöne Formulierungen und einen höchst angenehmen Sprachfluss. Beide Handlungsebenen haben mich gleichermaßen gefesselt. Hagar ist zu keinem Zeitpunkt eine sympathische Protagonistin. Dafür hat sie zu viele Ecken und Kanten, behandelt ihr Umfeld zynisch und empathielos. Trotzdem bekommt man im Zuge der Geschichte Verständnis für sie. Man beginnt zu verstehen, wie sie zu der Frau geworden ist, die sie ist. Man erkennt, dass sie Schicksalsschläge hat einstecken müssen, die ihr Leben geprägt und sie verhärtet haben. Es dauert sehr lange, bis sie sich ihren Fehlern und Lebenslügen stellen kann und sie für den Leser auch versöhnliche Züge bekommt. Doch mit der Versöhnlichkeit hat Hagar größte Schwierigkeiten: Selbst wenn der Geist willig ist, ist das Fleisch oft schwach und die nächste verbale Entgleisung hat ihren Mund schon verlassen, bevor sie es verhindern kann. Dadurch wird manchen Situationen auch etwas (Tragi-)Komisches verliehen.

Ich habe die Lektüre als ein sehr positives Leseerlebnis empfunden, man nimmt automatisch Anteil an Hagars Leben im ländlichen Kanada. Die wechselnden Perspektiven lösen einander völlig stimmig und selbstverständlich ab. Man hat nie Schwierigkeiten, den Faden wieder aufzunehmen. Auch bekommt man intensive Einblicke in die Malaisen des Alters, aber auch dies ohne Schwermut und Bitterkeit. Hagar ist hart im Nehmen. Was sie von anderen erwartet, leistet sie auch selbst. Der steinerne Engel dürfte eine Metapher sein, denn ein solcher steht auf dem Familiengrab im Manawaka und hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Protagonistin.

Ich bin sicher, dass dieser Roman breiten Leserschichten gefallen wird. Er bietet eine vielschichtige und interessante Lebensgeschichte einer alten Frau, die im Heute Schwierigkeiten hat, sich mit den Folgen des Alters abzufinden.

 
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Reaktionen: Wandablue und RuLeka

RuLeka

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30. Januar 2018
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Sehr gut die verschiedenen Facetten des Romans ausgeleuchtet. Für mich war das Buch auch eine lohnenswerte Lektüre.
Kanadas Literatur ist eine Entdeckung wert.
 
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Reaktionen: Literaturhexle

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Was ich bisher vom Eiseleverlag gelesen habe, hat mir überwiegend zugesagt!

Mit 90 ist nichts mehr für einen gefährlich, liebe Hexe. Alles, was einem passieren könnte, führt zum Tod. Und der kommt auch, wenn man nichts riskiert ;-).

Eine sehr schöne Rezension, die lebhaft nachzeichnet, warum Menschen sind wie sie sind.
Ich pflegte mal kurze Zeit eine 90jährige, vor der ich als junges Ding höllische Angst hatte ! ;-)).