Rezension Rezension (4/5*) zu Der Schneeleopard von Sylvain Tesson.

Geduld kann man lernen und genießen

Inhalt: Es gehört schon eine Portion Verrücktheit oder Naturliebe dazu, sich auf 4000 Metern Höhe bei minus 30 Grad stundenlang auf die Lauer zu legen. Die Suche nach dem Schneeleoparden führt den Schriftsteller und Reisenden Sylvain Tesson an der Seite des bekannten Tierfotografen Vincent Munier nach Tibet. Was als Abenteuer in einer unglaublich eindrucksvollen Natur beginnt, wandelt sich mehr und mehr zu philosophischen Betrachtungen fern aller Zivilisation.
Sylvain Tesson gelingt es, die abenteuerliche Fotoexpedition des Fotografen Vincent Munier in einer ungewöhnlich stillen und philosophischen Art zu schildern. Wer eine Tierdokumentation oder Details über den Schneeleoparden erwartet, darf das Buch getrost zur Seite legen, denn viel wird man über das Tier nicht erfahren.

Vielmehr widmet sich der Autor der Reise an sich. Die Zurücklassung der Zivilisation mit all seiner Hektik, den urbanen Bedürfnissen oder Bindungen. In Tibet ist man Mensch in einer rauen, ehrlichen Natur. Die wenigsten von uns werden jemals in solche Regionen gelangen oder sich solchen körperlichen Belastungen aussetzen. Für mich unvorstellbar, sich über Stunden in einer Höhle bei utopisch kalten Gradzahlen zu verschanzen, um einen Blick auf eines der seltensten Tiere überhaupt werfen zu können. Vier Menschen, ein Fotograf, eine Filmemacherin, ein Assistent und der Autor über Wochen auf sich selbst gestellt im eisigen Nichts.


"Die Temperatur machte alles unmöglich: Bewegungen, Worte, Melancholie. Wir waren bestenfalls in der Lage, mit dumpfer Hoffnung den Tag zu erwarten. ... Die Welt war gefrorene Ewigkeit."
Besonders interessant finde ich die Betrachtungen von Vincent Munier. Ein Mensch, der sich offensichtlich wohler in der Natur als unter Menschen fühlt. Durch seine Erfahrung als Fotograf und Beobachter bekommt man eine neue Sichtweise auf die Tiere und ihr Verhalten. Man fühlt sich hineingezogen in diese besondere Stimmung, wenn Yaks über die Ebenen ziehen, ein Wolfsrudel heult oder Wildesel davonpreschen.

"Und wir standen hier, in diesem gleißend hellen, morbiden Garten des Lebens. Munier hatte uns gewarnt, es sei das Paradies bei -30 °C. Das Leben verdichtete sich: geboren werden, laufen, sterben, verwesen, in einer anderen Gestalt wiederkehren."
Bei all der Einsamkeit und Warterei kann man Tessons philosophische Betrachtungen nachvollziehen und verstehen. Wer würde die Welt nicht mit anderen Augen sehen, wenn sie so ursprünglich und klar vor einem liegt. Vieles berührt oder macht nachdenklich. Manchmal verliert sich der Autor allerdings auch in seinen Ausführungen. Eine verflossene Liebe vergleicht er mit dem Schneeleoparden und widmet ihr mehrere Passagen. Sicherlich eine schöne Erinnerung, doch für den Leser schwer nachvollziehbar. Sozialkritisch und mit eindringlichen Worten weist er dagegen auf den Einfluss der chinesischen Republik hin. Unglaublich mit was für einer brachialen Gewalt hier die Natur zerstört wird.

Für mich ist dieses Buch auch eine Anregung, sich seine eigenen Rückzugsorte zu bilden. Die Anregung von Tesson, Beobachtungen in den Alltag einzubauen, finde ich interessant. Überall gibt es Dinge zu entdecken, wenn man die nötige Geduld dazu aufbringt.

"Ich hatte gelernt, dass die Geduld eine höchste Tugend war, die eleganteste und meistvergessene. Sie half dabei, die Welt zu lieben, statt sie verändern zu wollen. Sie lud dazu ein, sich vor die Bühne zu setzen, die Vorstellung zu genießen - und sei es nur ein zitterndes Blatt."
Vielleicht braucht es ein wenig Geduld, dieses Buch schätzen zu lernen. Aber mit jeder Zeile wurde ich mehr in dieses wunderschöne Tibet hineingezogen und habe die Stille genossen.



von: Isabelle Autissier
von: Dirk Gieselmann
von: Karin Seemayer