Rezension Rezension (3/5*) zu Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko.

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
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Wien
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Koma als Metapher

1999 in Belarus: Franzisk, genannt Zisk ist sechzehn Jahre alt und Schüler an einem Musikkonservatorium in Minsk. Er lebt bei seiner Großmutter, die ihn immer wieder zum Cello üben antreibt, damit er nicht von der Schule fliegt. Doch Zisk verbringt seine Zeit lieber mit Freunden, beim Fußball, neuerdings auch mit der hübschen Nastja. Am Abend eines Rockkonzerts gerät Zisk während eines Unwetters in eine Massenpanik. Er überlebt, fällt aber ins Koma, aus dem er zehn Jahre lang nicht aufwachen soll.

„Der Ehemalige Sohn“ ist das erste Buch, des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko. Der Autor, der in russischer Sprache schreibt, hat das Buch schon 2014 in seiner Heimat veröffentlicht. (In deutscher Sprache folgt es allerdings seinem späteren Werk „Rote Kreuze“.) In Russland erhielt Filipenko für sein Debüt einen Literaturpreis für Werke in von Nichtrussen in russischer Sprache. In Belarus jedoch ist das Buch nur unter der Hand zu bekommen, der belarussischen Nationalbibliothek wurde dringend empfohlen, das Buch nicht in den Katalog aufzunehmen.

„Man nicht über Belarus schreiben, ohne politisch zu werden.“, sagt Filipenko in einem Interview.

1999 ist Belarus seit acht Jahren ein unabhängiger Staat. Doch die Menschen in Belarus leben zumeist in prekären Verhältnissen, der Staat ist korrupt, der Machthaber bis heute ein autoritärer Diktator. Zisk beginnt zu dieser Zeit ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. Die belarussische Sprache und Identität ist ein wesentliches Motiv in diesem Buch. Zisk und seine Freunde diskutieren diese gerne in der Pause am Schulklo, auch auf belarussisch:

„Weil ich die Sprache halt einfach irre schön finde! Weil ich damit anders bin als die anderen. Weil ich nicht die Sprache derer sprechen will, die uns als Aufseher geschickt worden sind.“

Doch dann kommt das schreckliche Ereignis. Die Massenpanik vom Frühjahr 1999 -ein tatsächliches Ereignis - nach der Zisk ins Koma fällt. Keiner glaubt an sein Wiedererwachen, nicht die Mutter, nicht seine Ärzte. Nur Elvira, die Großmutter, verharrt Tag für Tag am Krankenbett des Enkels. Es sind ihre Monologe, die dem Patienten, aber dadurch auch der Leserin die Chronik des Landes vermittelt.

Meiner Meinung gibt das Vorwort (so man es vor der Lektüre liest, und darüber könnte man auch schon trefflich streiten. ) die Interpretation vor Das Buch ist eine politische Metapher, das Koma des jungen Mannes eine Allegorie und die Monologe, die Berichterstattung der aktuellen Ereignisse eine literarische Spielart der Leserin das Land und die Geschichte Belarus zu erklären. Die Interpretation verlagert sich auf eine politische Metaebene, wenn man dem Vorwort folgen will, und das Buch schlicht politisch analysiert.

Das macht vieles wett, was ich an dem Buch nicht mochte: die abgehackte Sprache, das Jugendsprache, die Monologe, und auch die fragwürdige Art der Ärzte im Umgang mit einem Komapatienten.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass irgendjemand mich hier braucht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich jemanden brauche. Ich bin überall nur der Ehemalige. Ehemaliger Nachbar, ehemaliger Bekannter, ehemaliger Sohn …“

Was bleibt ist ein guter Eindruck von dem Unvermögen eines Landes sich aus einem totalitären Regime zu befreien. Es ist nahezu ein hellsichtiges Buch, wenn man die Entwicklungen des letzten Jahres in Belarus betrachtet. Das Land scheint tatsächlich aus dem Koma erwacht zu sein, leidet aber immer noch an den Begleiterscheinungen und gehörte dringend in Rehabilitation.