1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis Kapitel 12 (Anfang bis S. 81)

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Das Buch beginnt mit einer Wutrede der jungen MIchette gegen ihren Therapeuten Oscar (auf der Umschlagklappe steht Otto - ein Druckfehler?) Kadoke. Ka-do-ké ausgesprochen, wie wir später erfahren. Michette war offenbar lange stark suizidgefährdet. Seine unkonventionelle Therapie bestand u.a. darin, dass sie Kadokes Mutter (die eigentlich sein Vater ist, der sich nach dem Tod der Mutter als Frau kleidet) pflegte und bei ihm wohnte. Nachdem sie sich mit besagter Wutrede von ihm und ihren eigenen Eltern "befreit" hat, geht sie eine Beziehung zu einem Schriftsteller ein, der kurz darauf ein Buch über die angebliche Liebesbeziehung zwischen Kadoke und Michette veröffentlicht. Diese Beziehung hat zwar so nie existiert, aber die Veröffentlichung genügt für schlechte Propaganda.
Weitere Probleme, mit denen er sich herumschlagen muss: Eine entfernte Verwandte - die Enkelin einer Großcousine -, die in Jerusalem wohnt und auf der Rückreise von einem Mathematikerkongress begriffen ist, nistet sich bei ihm ein, um "ihre Familie kennen zu lernen". In äußerst übergriffiger Weise belegt sie seine Schlafcouch, schleppt ihn mitsamt dem depressiven Vater (der inzwischen wieder von der Mutter zum Vater mutiert ist) in ein koscheres Restaurant und verwickelt ihn in offensive Gespräche über Antisemitismus.
Michette und ihr Neuer stellen das Buch in einer Talkshow vor; wie zu erwarten war, wird Kadoke darin beruflich unmöglich gemacht. Er lässt jede Gelegenheit, sich zu wehren, ungenutzt verstreichen.

Kadoke war "der Mann, der aus der kritischen Distanz seine Lebensaufgabe gemacht hat, der sich engagierte, indem er unengagiert blieb, ein jederzeit offenes Ohr, (...) und der so nicht bemerkte, was vor seinen Augen geschah. Kadoke war ein Mensch, der die Entlarvung dermaßen fürchtete, dass er sich jedes Mal gleich selber entlarvte, so wie andere Leute sich im Voraus entschuldigen."

Am Ende des 12. Kapitels wird er in Urlaub geschickt. Nun wird er wohl, wie im Klappentext angekündigt, Anat besuchen. Das Buch ist beklemmend lustig (die Unverschämtheiten, die Kadoke sich bieten lässt, sind geradezu schmerzhaft), die Dialoge spritzig geschrieben, das Lesen macht Freude. Der arme Kadoke scheint ein rechter Antiheld zu sein.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Fleißig, fleißig liebe @Die Häsin und gut zusammengefasst.

Ich fühlte mich von einem Bild ins nächste geschmissen, mit einem gewissen WTF-feeling.
Zunächst die Vorwürfe Michettes an ihren "Freund", der sie anscheinend nie richtig geliebt hat und sie ihn deswegen verlässt.
Dann die Erkenntnis, dass es sich nicht um ein Paar handelt, sondern um Patient und Therapeut gefolgt von meinem Bedenken, dass Kadoke die Situation anscheinend schamlos ausgenutzt hat und seine pflegebedürftige Mutter von Michette hat betreuen lassen und dann auch noch im Hotel von Michettes Eltern.
Die nächste Irritation ließ aber nicht lange auf sich warten und die Mutter entpuppt sich zum Vater.

Nun zerren gleich drei Frauen an Kadokes Nerven, die entfernte aufdringliche Cousine Anat, die erpresserische und scheinbar immer noch bekloppte Michette und die neue Pflegerin Rianne die auf ihre Weise "Christen für Israel" Kadoke die Welt erklärt.

Haha, bin echt gespannt wie es weitergeht.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Ja, Rianne hatte ich ganz vergessen, obwohl ich beim Schreiben meiner Zusammenfassung dachte, da war doch noch was ...
WTF-feeling trifft es sehr gut.
Ich liebe eigentlich solche Bücher, die die political correctness ein wenig gegen den Strich bürsten.
Jetzt hab ich dich gar nicht erkannt, Hasilein! Erst auf den zweiten Blick. Ein interessanter Hase, immer noch warm angezogen, aber der April ist ja auch kühl.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Jetzt hab ich dich gar nicht erkannt, Hasilein! Erst auf den zweiten Blick. Ein interessanter Hase, immer noch warm angezogen, aber der April ist ja auch kühl.
Ernst hat keine eigentliche Sommergarderobe. Das mümmelt er mir auch jedes Jahr vor. In diesem Jahr wird er welche bekommen, damit Ruhe ist. Ich hab Hugo Boss entsprechende Weisung gegeben.
 

Renie

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"WTF-Buch" trifft es genau. Ich lese mich von Szene zu Szene und frage mich, was passiert hier gerade. Aber ich mag schräge Bücher und Überraschungen. Insofern kann ich erstmal nicht anders, als angetan zu sein. ;)
Was habe ich mir im ersten LA notiert?
Zunächst bin ich über den Begriff "alternative Therapie" gestolpert. Die Einen mögen Kadokes "alternative Therapie" als eigenwillige, aber kreative Form der Behandlung ansehen. Die Anderen könnten ketzerisch behaupten, dass es sich hierbei um eine freundliche Verschleierung der Tatsache handelt, dass sich Kadoke eine Gratis-Auszeit in einem Hotel an der holländischen Küste "gegönnt" hat, inklusive Gratis-Betreuung seines Muttervaters. Die Logis wird vermutlich frei gewesen sein. Als Gegenleistung musste er nichts anderes tun, als Michette zu bespaßen (oder hat sie etwa ihn "bespaßt"?). Ich bin mir noch nicht sicher, auf welche Seite ich mich schlage. Zumindest scheint sich Kadoke keiner Schuld bewusst.
Ach so, Kadoke bleibt bei mir Kadóke, da kann er behaupten, was er will. Kadoké geht mir einfach nicht geschmeidig von den Lippen.;)

Kadoke wirkt auf mich überheblich und zynisch. Daher steht ihm das Opferhemd auch nicht gut zu Gesicht.
Interessant ist der jüdische Aspekt in diesem Roman. Mit Rianne und Anat prallen zwei extreme Sichtweisen aufeinander. Rianne ist Mitglied bei den "Christen für Israel". Sie scheint großer Fan des Judentums zu sein, was dem Ganzen einen negativen Beigeschmack verpasst. Denn mir sind ihre Beweggründe noch nicht ganz klar. Sieht sie sich als Christin in der Pflicht, Gutes zu tun? Und wer bietet sich da nicht besser an, als Juden, die aus der Historie heraus als Opfervolk bezeichnet werden? Ich bin mir nicht sicher.
Cousine Anat hingegen ist eine Hardlinerin. Sie wittert überall Antisemitismus und wertet jede, auch noch so kleine Anmerkung zum Judentum sowie dem Palästinenserkonflikt als Steilvorlage, um Antisemitismus zu unterstellen. Fürchterlich.
Aber immerhin ist sie jemand, der aufgrund ihrer Rhetorik und ihres Selbstbewusstseins in der Lage ist, Kadoke zu beeindrucken, auch wenn er das abstreiten würde.
 

Emswashed

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RuLeka

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Michette war offenbar lange stark suizidgefährdet. Seine unkonventionelle Therapie bestand u.a. darin, dass sie Kadokes Mutter (die eigentlich sein Vater ist, der sich nach dem Tod der Mutter als Frau kleidet) pflegte und bei ihm wohnte.
Ausführlich wird die ganze Geschichte im Vorgängerroman „ Muttermale“ erzählt.
 

RuLeka

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Rianne ist Mitglied bei den "Christen für Israel". Sie scheint großer Fan des Judentums zu sein, was dem Ganzen einen negativen Beigeschmack verpasst. Denn mir sind ihre Beweggründe noch nicht ganz klar.
Sie scheint das Paradebeispiel für eine Philosemitin zu sein. Jemand, der das Klischee vom Judentum liebt. „Philosemiten sind Antisemiten, die die Juden lieben.“ Soll mal jemand so definiert haben. Vielleicht will sich Grünberg hier über diese besondere Zuneigung zum Juden an sich lustig machen.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich habe es erst bis auf Seite 44 geschafft, und muss sagen, dass es für mich kein Buch ist, dass ich gern lese.
Kadokes Gedankengänge erschließen sich mir nur nach und nach, und viel abgewinnen kann ich dem Konstrukt der alternativen Therapie bisher auch nicht. Die Tatsache, dass er und sein Vater eine zeitlang eine Maskerade aufrechterhalten haben, ist mir momentan auch ein wenig zu viel. Nun tritt Anat in sein Leben, das könnte eine Wendung bereithalten, ihn von seinen "Problemen" ablenken.
Ich werde erstmal den Abschnitt komplett beenden und dann weitersehen
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Ihr habt oben schon gut auf die skurrilen, etwas eindimensionalen, aber liebevoll eindimensionalen Charaktere hingewiesen. Ich möchte dazu nur noch einen ergänzenden Gedanken hinzufügen. Ist es nicht auch sehr liebevoll konstruiert, wie sich diese Charaktere alle irgendwie um und auf Kadokes Sofa tummeln? Irgendwann landen sie alle dort, um sich mit dem Psychiater Kadoke auseinanderzusetzen, zu reiben oder was auch immer. Der Sternpunkt von LA 1 sozusagen war für mich dieses Sofa.
Kadoke spielt in diesem weiblich geprägten Figurengeflecht eine Rolle des Getriebenen, der es irgendwie nie schafft, die Fäden in der Hand zu halten.
[zitat]Wenn Leben mehr sein soll als etwas, das einem nur zustößt, muss er Michette jetzt anrufen.....[/zitat]
Aber genau dann, wenn Kadoke dann mal doch versucht, das Leben nicht nur als etwas ihn Zustoßendes zu erfassen, geht es auch grundlegend schief.
Ich mag diesen etwas traurigen Helden und die humorige, liebevolle Art und Weise, wie uns der Autor bisher von ihm berichtet. Ich folge ihm gern weiter.
 

Renie

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Sie scheint das Paradebeispiel für eine Philosemitin zu sein. Jemand, der das Klischee vom Judentum liebt. „Philosemiten sind Antisemiten, die die Juden lieben.“ Soll mal jemand so definiert haben. Vielleicht will sich Grünberg hier über diese besondere Zuneigung zum Juden an sich lustig machen.
Was es nicht alles gibt! Grünberg will sich mit Sicherheit darüber lustig machen, genauso wie er sich über Anats Verständnis des Judentums lustig macht. Er wird doch wohl nicht zum Rundumschlag ausholen und sämtliche Bilder und Klischees, die mit dem Jüdischsein in Verbindung gebracht werden, aufs Korn nehmen? Ich bin gespannt.
 

RuLeka

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Er wird doch wohl nicht zum Rundumschlag ausholen und sämtliche Bilder und Klischees, die mit dem Jüdischsein in Verbindung gebracht werden, aufs Korn nehmen?
Doch. Genau das erwarte ich von ihm. Er hat schon einen ganz speziellen Humor.
Ist es nicht auch sehr liebevoll konstruiert, wie sich diese Charaktere alle irgendwie um und auf Kadokes Sofa tummeln? Irgendwann landen sie alle dort, um sich mit dem Psychiater Kadoke auseinanderzusetzen, zu reiben oder was auch immer. Der Sternpunkt von LA 1 sozusagen war für mich dieses Sofa.
Sehr schön beobachtet! Und der arme Kadoke sitzt da und wird mit den verschiedensten Vorwürfen und Forderungen konfrontiert. Er wirkt dabei keineswegs wie der souveräne Psychiater, der gute Ratschläge austeilt, im Gegenteil. „ Ich bin Psychiater, weil ich mit dem Schmerz anderer nicht umgehen kann.“ Hä...ist das nicht die eigentliche Aufgabe eines Psychiaters?
Mit der Rückverwandlung der Mutter habe ich nun weniger Schwierigkeiten. Aber im Vorgängerbuch „ Muttermale“ war ich doch ziemlich geschockt, als mir irgendwann aufging, dass die Mutter eigentlich der Vater ist. Ich habe das zuerst für einen Witz gehalten.
Manche Dialoge sind genial, z.B. folgender:
„ Zur Freundschaft habe ich wenig Talent....“
„Talent“, erwidert Anat, „ hat auch was mit abbügelt zu tun. Man kann sich ans Klavier setzen und warten, bis es von selbst spielt, oder man kann üben.“
„Nicht jeder Mensch will Klavier spielen.“
Auch die Szene im Restaurant hat mich amüsiert.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Endlich habe ich den ersten LA auch geschafft, schüttle meinen Kopf und frage mich, in welches Irrenhaus ich da geraten bin.

Alternative Therapie und alternative Trauerbewältigung sind wirklich ... alternativ. Vor allem letztere. Ganz klar, ein Gag. Bei der alternativen Therapie bin ich gleich skeptisch, denn dabei gibts Dinge, die es auch in einer alternativen Therapie nicht gäbe. Niemals. Die Patientin kommt auch nach der Therapie noch ins Haus, sie fasst den Therapeuten an, sie besucht ihn in Begleitung ihres Freundes. Und die Erklärungen dafür von K. sind doch mehr als dürftig.

Dann die Cousine vierten Grades. Wie unwahrscheinlich ist das denn, dass die miteinander ins Bett gehen. Sozusagen sofort.

Dann die Fernsehsendung. Warum schenkt K. dem Chef nicht sofort reinen Wein ein über alles und klagt gegen den Schriftsteller und M. auf Unterlassung der Namensnennung. Das ist Rufschädigung. K. hätte gleich zu Anfang die M. darüber aufklären müssen, dass sie, wenn sie in die Sendung geht und wenn auch nur einmal sein Klarname fällt, mit einer Anzeige rechnen muss.

Ergo. K. ist ein Irrer.

Mal sehen, wie es weitergeht. Geschrieben ist es zügig. Fällt euch das knallgelbe Lesebändchen auf? Wenn der Autor mich zu sehr reizt, schneide ich es ab. Haha. Er legt es ja auf Provokation an. Auf nette Weise.

Und der Autor wirft mit Pseudoweisheiten um sich:
- wenn man schon trinkt, dann lieber richtig.
- man spricht nur über das, was man sprechen kann, über den rest muss man schweigen.
Es gibt noch andere, die ich mir nicht notiert habe.

Ich mag Lebensweisheiten, aber hier haben wir Pseudoweisheiten, Zeug, das gut klingt, aber falsch ist oder gar nix bedeutet.

Zu den Christen für Israel. Natürlich gibt es die. Das sind Menschen, die von der Bibel her auf Israel schauen. Weil die Juden das auserwählte Volk Gottes sind. Die Entstehung des Staates Israel wird als eine Erfüllung der Prophetie angesehen. Christen haben generell ein weites Herz für Israel. Die wenigsten glauben an eine Zweistaatenlösung. Ich auch nicht. Es kann keine Lösung mit Leuten geben, deren Lebensziel darin besteht, den jüdischen Staat zu vernichten.

Here I Am von Jonathan Safran Foer greift den Konflikt zwischen den beiden Meinungen auch sehr auf. Ein Buch, das ich von Herzen empfehle. Die Amerikaner in den Staaten sind für eine friedliche Lösung und die Zweistaatenlösung, aber der Cousin, der von Israel zu Besuch kommt, klärt über die tatsächlichen Verhältnisse auf und schüttelt den Kopf: es ist unmöglich.

 
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