Rezension Rezension (5/5*) zu Der Abstinent: Roman von Ian McGuire.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Abstinent: Roman von Ian McGuire
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Ein Zyklus von Rache und Schuld⁣

Wie der undurchdringliche Nebel quasi aus den Zeilen wabert, du den Geschmack des nahen Chemiewerks bitter auf der Zunge schmeckst und sie vor dir siehst, die verstohlenen, argwöhnischen Blicke der Iren, die keinen Grund haben, dir zu vertrauen. Der Hass und die Angst auf beiden Seiten des Konflikts packen dich an der Kehle, du bist mittendrin, in dieser Zeit, an diesem Ort. Die Atmosphäre ist zum Schneiden dicht.⁣

Und du erkennst: hier gibt es keine Gewinner, nur einen Zyklus der Gewalt, der immer nur mehr Opfer fordert. Das ist großartig geschrieben, auch wenn es manchmal schwer zu ertragen ist, wie elend und düster die Welt ist, die Ian McGuire beschreibt – insbesondere weil der Nordirlandkonflikt keineswegs lange vorbei und schon vergessen ist.⁣

Gerade jetzt, im Jahr 2021, wo fraglich scheint, ob der Brexit die Stabilität des Karfreitagabkommens weiter untergraben wird, rührt der Roman an einen Konflikt, der leider immer noch aktuell ist. “Der Abstinent” ermöglicht Leser:innen einen Einblick in dessen konfliktgeladene, blutige Geschichte.⁣

Rache ist hier nicht süß, für niemanden.⁣

Die Spannung entsteht meines Erachtens vor allem daraus, dass du den Protagonisten, James O’Connor und Stephen Doyle, hilflos dabei zusiehst, wie sie versuchen, in diesem Strudel von Rache und Gegenrache die Oberhand zu behalten oder wenigstens nicht zu ertrinken. Wie sie kämpfen, gewinnen und verlieren – und doch hätten sie beide so viel Potential für ein besseres Leben. Immer wieder dachte ich: Nein, nein, tu das nicht!⁣

James O’Connor ist in meinen Augen der Sympathieträger des Romans. Er ist der titelgebende Abstinent: früher war er Polizist in Irland, aber nach dem Tod seiner Frau und seines Kindes wurde er zum Säufer und quasi nach Manchester abgeschoben, wo er nun versucht, Fuß zu fassen. Seit er in England ist, trinkt er nicht mehr, aber seine Dämonen sitzen ihm stets geifernd im Nacken. Immer wieder nehmen seine Gedanken jedoch einen geradezu philosophischen Ton an – obwohl er Ire ist und die Unterdrückung der Iren ihn daher mit Zorn erfüllt, heißt er die Gewalttaten der ›Fenians‹ nicht gut. Freunde macht er sich damit auf beiden Seiten nicht.⁣

Über den Hintergrund seines Widersachers möchte ich noch nicht zu viel verraten, weil der sich auch im Buch erst so nach und nach erschließt. Nur so viel: Doyle ist das Produkt eines harten Schicksals, das sehr viel erklärt, wenn auch nicht alles entschuldet. Jetzt mag er ein eiskalter Killer sein, aber als Leserin kam ich nicht umhin, dem Jungen, der er einst war, Mitgefühl und Verständnis entgegen zu bringen. Im Grunde ist er eine tragische Gestalt.⁣

Die Geschehnisse sind schlüssig, glaubhaft – und beklemmend. O’Connor und Doyle sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Der eine hätte leicht so werden können wie der andere, wäre sein Leben nur minimal anders verlaufen. Sie sind komplexe, vielschichtige Figuren, die beiden Seiten des Konflikts eine überzeugende Stimme geben, so dass du dich dessen Schrecken kaum entziehen kannst.⁣

Trotz aller Schrecken und Düsternis ist es ein unterhaltsames Buch, ein echter Pageturner. Ich habe die 336 Seiten binnen zwei Tagen gelesen, weil die Sogwirkung der Geschichte mich schon nach wenigen Kapiteln gepackt hatte. Das macht Spaß, weil es so gut geschrieben ist, so überaus prägnant und lebendig, auch wenn die Dinge, die passieren, meist nur wenig Grund zur Freude bieten.⁣

Ein Blick in die Rezensionen verrät: das Ende polarisiert. Ich wusste, dass viele Leser:innen die Auflösung der Geschichte bemängeln, aber nicht warum – daher las ich mit Spannung, aber auch banger Unruhe der letzten Seite entgegen. Über das Ende kann ich leider nicht sprechen, ohne schon zu viel zu verraten, daher nur dies: danach brauchte ich erstmal eine Pause, musste mir das eine Weile gründlich durch den Kopf gehen lassen.⁣

Und jetzt? Finde ich das Ende schlüssig, realistisch, bitter. Man muss es sicher nicht unbedingt mögen, aber es passt ins Gesamtbild, ist eines von vielen möglichen Resultaten der Ereignisse.⁣

Ja, ich glaube, ich mag es – und mag es gleichzeitig nicht. Ich hätte mir etwas anderes gewünscht, aber ein Roman ist eben auch kein Wunschkonzert. Wenn ich jedoch das Gesamtbild betrachte, dann ist “Der Abstinent” für mich ein echtes Highlight, auch mit genau diesem Ende.⁣

Fazit:⁣

Ian McGuire beschwört das Jahr 1867 herauf. Wir sind in England, nicht in Irland, und dennoch ist der Nordirlandkonflikt das zentrale Motiv des Romans. Constable James O’Connor, erst vor kurzem aus Irland nach England versetzt, und der amerikanische Ire Stephen Doyle finden sich auf verschiedenen Seiten dieses Konflikts wieder: O’Connor heißt die Gewalttaten der irischen Unabhängigkeitskämpfer genauso wenig gut wie die Unterdrückung seiner Landsleute, während Doyle extra aus Amerika hergeholt wurde, um die Engländer auf blutige Art das Fürchten zu lehren. Zwischen den beiden entbrennt ein erbitterter Kampf.⁣

Ich fand vor allem Schreibstil und Atmosphäre auf düstere Art unwiderstehlich, doch auch die beiden Hauptcharaktere ließen mich schnell nicht mehr los. Der Roman ist ein bestechend aussagekräftiger Einblick in die Geschichte eines Konflikts, der sich bis in die Gegenwart zieht. Verrat, Rache, Armut, Schuld, es ist ein deprimierendes Bild, dass McGuire vor den Augen der Leser:innen auferstehen lässt, doch leider auch ein realistisches – und ein spannendes.

 

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