Rezension Rezension (4/5*) zu Die nicht sterben: Roman von Dana Grigorcea.

Renie

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19. Mai 2014
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Ungewöhnlich und eigenwillig

Was habe ich da nur gerade gelesen? Der Roman "Die nicht sterben" von Dana Grigorcea ist ungewöhnlich, außergewöhnlich, rätselhaft, mysteriös, politisch, blutig, satirisch ..... und einiges mehr. Er ist also vieles, aber eines ganz sicher nicht: langweilig ... auf gar keinen Fall!
Die Autorin Dana Grigorcea wurde in Rumänien geboren und in Rumänien spielt auch ihr Roman - genauer gesagt in der Walachei. Die Walachei grenzt an Transsilvanien, und ist die Rede von Transsilvanien denkt man sofort an Graf Dracula, der dort ein Schlösschen hatte und eigentlich ein Fürst war, nämlich Fürst Vlad III, auch als "der Pfähler" bekannt.

Und die Aura des, vor ca. 700 Jahren lebenden legendären Adeligen ist auch heute noch in diesem Landstrich zu spüren - genauso wie in dem Roman "Die nicht sterben". Der vielsagende Titel dieses Romanes erweckt Assoziationen, die man mit unsterblichen Vampiren in Verbindung bringt. Alles in allem versetzt uns die Autorin an ein Setting, das den Mythos Dracula förmlich "atmet".

„Nun will ich Ihnen aber die blutrünstige Geschichte erzählen, die sich in B. zugetragen hat; ich rufe ihn als Zeugen auf, meinen Vorfahren Vlad den Pfähler, dessen Blut in meinen Adern fließt."

Ich-erzählende Protagonistin dieses Romans ist eine Kunststudentin, die den Sommer bei ihrer Großtante "Mamamargot" im rumänische B. verbringt, wie jeden Sommer seit sie denken kann. In der Kindheit der Protagonistin war die Sommerresidenz von Margot zur Zeit Ceaucescus vom Staat enteignet. Die Großtante mietet sich daher in das eigene Anwesen ein, um hier den Urlaub in vertrauter Umgebung verbringen zu können. Margot gehört der höheren Gesellschaft an und scharrt einen großen Freundeskreis aus Adeligen, Künstler, Intellektuellen um sich. Diese Freunde geben sich in Margots Sommerresidenz quasi die Klinke in die Hand und gemeinsam frönt man dem Laissez-faire.

Nach dem Sturz des Diktators Ceaucescu und dem damit verbundenen politischen Umbruch geht das Anwesen wieder in Margots Besitz über. Der Ort verändert sich. Die Menschen ziehen aus der abgelegenen Gegend weg. Die Häuser verfallen. Das Dorf scheint auszusterben.

Mit dem Namen Dracula verbinden sich Mythen und Geschichten, deren Faszination sich keiner entziehen kann. Was die politischen Oberen dieses Ortes für sich ausschlachten und somit dem wirtschaftlichen Niedergang dieser Gegend entgegenwirken wollen. Tourismus muss her.

„Ansonsten schlenderten die Touristen umher und schauten sich nach einem möglichen Dracula oder nach Vampiren um; und sie legten dabei eine ungewöhnliche Bereitschaft an den Tag, alles hier bizarr zu finden, primitiv und abstoßend. Wie bestellt kamen die wenigen Bauern aus ihren Häusern hervor und liefen mit grimmigen Mienen umher, lebendige Beweise für ihre vermeintliche Andersartigkeit."

Doch nicht nur die Touristen lassen sich von den Geschichten um Dracula vereinnahmen. Auch die Ich-Erzählerin verfällt dem Bann des Mythos. Doch ist es nur ein Mythos? Denn irgendetwas geschieht in der Gegend und mit der Ich-Erzählerin - Dinge, die sich nicht mit dem gesunden Menschenverstand erklären lassen.

In Dana Grigorceas Roman treffen Aberglauben und Tradition auf das moderne Leben und seine "Errungenschaften". Dieses Aufeinanderprallen von Archaismus und Fortschritt ist schon sehr krass. Ein Bild das dies mehr als verdeutlicht ist sicherlich ein Moment, wenn mit Handys bewaffnete Touristen über uralte Gräber trampeln, auf der Suche nach einem Hintergrundmotiv für das ultimative Selfie. Dabei entsteht beim Lesen ein merkwürdiges Unbehagen, das nicht durch die Respektlosigkeit gegenüber der Geschichtsträchtigkeit entsteht, sondern eher durch drohende Konsequenzen auf diese Respektlosigkeiten. Man wartet voller Spannung auf das, was da kommen könnte – selbst wenn sich dies nicht mit Logik und Verstand erklären ließe.

„Ich erinnere mich an viele Details, die ich aber mit den späteren Berichten aus den Medien vermischen mag, wobei mir das persönlich Erlebte rückblickend unwirklich erscheint. Ich habe mit mir gehadert. Ist mein Vorsatz, bei der Wahrheit zu bleiben, überhaupt einzuhalten, wenn sich die Erinnerung bruchstückhaft darstellt?"

Die Autorin setzt dabei auf die Vorstellungskraft des Lesers. Denn sie lässt vieles im Ungewissen, wobei Unausgesprochenes und Andeutungen eine ganz eigene Wirkung erzielen, die durch einen poetischen Sprachstil voller Farbenpracht und kraftvoller Bilder noch verstärkt wird.
Ein ungewöhnlicher und rätselhafter Roman! Leseempfehlung!

© Renie

 
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