Rezension Rezension (4/5*) zu Finstere Havel: Kriminalroman von Tim Pieper.

parden

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13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Unfall, Selbstmord oder Mord?

Ein Auto wird aus der Havel geborgen, am Steuer eine tote Frau. Beging sie Selbstmord, war es ein Unfall oder wurde sie umgebracht? Die Ermittlungen führen Hauptkommissar Toni Sanftleben in den Naturpark Westhavelland, wo die Biologin an einem großen Flussprojekt mitarbeitete und in ihrer Freizeit den Nachthimmel erforschte. Doch am dunkelsten Ort Deutschlands ist es so finster, dass man die Gefahr nicht kommen sieht.


Erster Satz (S. 7): “Lautlos kam das Auto aus der Dunkelheit, rollte den Fähranleger hinunter und klatschte in die Havel.”


Mit ‘Finstere Havel’ legt der Autor Tim Pieper bereits den fünften Band seiner Regionalkrimi-Reihe um Hauptkommissar Toni Sanftleben vor. Zwar lassen sich die Krimis unabhängig voneinander lesen, da sie in sich abgeschlossen sind, jedoch würde ich allein schon der Entwicklung der Charaktere wegen empfehlen, die Bücher in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu lesen.

Der fünfte Band der Havelkrimis hat es wahrlich in sich. Melanie Berndt heißt die junge Frau, die tot aus der Havel geborgen wird, angeschnallt in ihrem Auto. Bis zum Schluss bleibt dabei unklar, ob es sich bei ihrem Tod um einen Unfall handelt, um einen Selbstmord oder um einen Mord. Die Ermittlungen laufen daher in alle Richtungen, und da tun sich schon bald mehr Abgründe auf als anfangs zu vermuten war.

Die junge Biologin war hypersensibel, versuchte ihren Stress durch zu viele Sinneswahrnehmungen mit Alkohol zu betäuben und verließ schließlich Mann und Kind. Durch die Anonymen Alkoholiker schaffte Melanie es dann aber, vom Alkohol loszukommen, und tat auch sonst alles, um bei der nächsten Gerichtsverhandlung die Chance zu wahren, ein unbeschränktes Umgangsrecht für ihre kleine Tochter zu erhalten.

Auch wenn Melanie Berndt Menschen meist mied und sich im Umgang mit ihnen oftmals unsicher und unbeholfen benahm, zeugten viele ihrer Verhaltensweisen dennoch von einem großen Einfühlungsvermögen. Wenn etwas gegen ihre Prinzipien verstieß, reagierte sie allerdings sehr spontan und kompromisslos, ohne über die möglichen Folgen nachzudenken. Dies brachte ihr nicht nur Freunde ein. Beruflich war sie aber trotz ihrer Mankos erfolgreich, was sie v.a. ihrem Chef Professor Wendschneider verdankte, der ihre Fähigkeiten zu schätzen wusste und der sie stets unterstützte.

Je intensiver Toni Sanftleben und seine Kollegen ermitteln, desto mehr wird deutlich, dass die hypersensible und sozial unbeholfene Melanie einigen Männern in ihrem Umfeld eine große Angriffsfläche bot. Sei es ihr Mann, der die Trennung nicht akzeptieren wollte und der das Umgangsrecht mit dem Kind als Druckmittel nutzte, sei es der Professor, dessen großzügige Unterstützung womöglich so uneigennützig nicht war, oder sei es ein boshafter Nachbar oder auch dessen Cousin, die Melanie in der Vergangenheit bereits einige Male verärgert hatte. Jeder von ihnen könnte der Täter sein – wenn es denn ein Mord war…

Durch einen stetigen Perspektivwechsel zwischen den Ermittlungen bzw. dem Geschehen um die Ermittler in der Gegenwart und mit ‚Vor einiger Zeit‘ überschriebenen Kapiteln aus der Vergangenheit sorgt Tim Pieper immer wieder für kleine Cliffhanger im Geschehen, die die Spannung aufrecht erhalten. Die Abschnitte aus der Vergangenheit bieten zudem für den/die Leser/in einen kleinen Wissensvorsprung vor Toni und seinem Team, ohne dass sie dabei zu viel verraten.

Der Schreibstil ist gewohnt flüssig, so dass sich die Seiten trotz des sehr dicht gedrängten und kleinen Schriftbildes zügig lesen lassen. Gerade die Naturbeschreibungen erscheinen sehr bildhaft und lassen Landschaften vor dem inneren Auge entstehen – teilweise gibt es da richtiggehend poetische Sätze, was ich für einen Krimi schon außergewöhnlich finde:



„Irgendwo zersprang der Morgen, und das erste Sonnenlicht splitterte durch das Geäst." (S. 103)



Gefallen hat mir auch, dass Tim die Charaktere unbeeinflusst von jeglicher Pandemie agieren lässt und damit auf einen Bezug zur aktuellen Lage verzichtet. So hat es mich richtig gefreut, als Tonis Kollegin einem Feuerwehrmann die Hand schüttelte – so herrlich normal, jenseits aller Rühr-mich-nicht-an-Regeln… Das mag verrückt klingen, aber mich hat das richtig erleichtert. Was mich allerdings ab und an irritierte, das ist so eine punktuelle superkorrekte Ausdrucksweise, was sich nicht nur auf die Ermittlungen bezieht und dann sozusagen unter sperrigem ‚Beamtendeutsch‘ läuft, sondern auch an anderen Stellen auftaucht, was das Ganze etwas hölzern wirken lässt. Wörter wie ‚Wirkungstreffer‘ oder ‚Blutanhaftungen‘ sind für mich einfach kein Alltags-Vokabular sondern eher Fachtermini (hier aus dem Boxsport bzw. aus einem Polizeibericht), die mich zumindest kurz stutzen lassen.

Toni Sanftleben ist dem/der Reihenleser/in in seinem fünften Fall bereits bestens vertraut, und auch die Entwicklung des Charakters konnte bis dahin verfolgt werden. Auch wenn der Hauptkommissar immer schon eigenwillig und keinesfalls unkompliziert war, wirkt er hier trotz seiner unbestreitbaren Fähigkeiten als Ermittler nun zunehmend unausgeglichen. Er begeht Anfängerfehler (lässt in einer undurchsichtigen Situation sein Handy im Auto, trägt ungeeignetes Schuhwerk bei einer Verfolgungsjagd) und hat seine Emotionen zeitweise kaum noch unter Kontrolle. So beschimpft er nicht nur Zeugen, sondern kann von seinen Kollegen teilweise gerade noch daran gehindert werden, auf brutalste Art handgreiflich zu werden. Dies fand ich schon irritierend bis bedenklich, und tatsächlich scheint eine längere Auszeit für Toni nicht die schlechteste Idee zu sein…

Alles in allem ist dieser fünfte Band aber auch wieder ein überzeugender Krimi voller Fragezeichen, die erst am Ende aufgelöst werden, und bis dahin wird der/die Leser/in wie ein Hase über das Feld der Verdächtigen gejagt, kreuz und quer durch alle möglichen Theorien, die gleich darauf doch wieder verworfen werden müssen. Tim Pieper versteht es eben, den/die Leser/in an der Nase herumzuführen.

Glücklicherweise verriet der Autor bereits, dass es mindestens noch einen weiteren Fall für Toni Sanftleben geben wird, das wird alle Fans freuen. Mich auch.



© Parden