Rezension Rezension (5/5*) zu Vom Aufstehen: Ein Leben in Geschichten von Helga Schubert

RuLeka

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30. Januar 2018
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Klug und lebenserfahren

Die Schriftstellerin Helga Schubert wurde im vergangenen Jahr mit dem Ingeborg - Bachmann - Preis ausgezeichnet. Sie war die älteste Teilnehmerin bisher in Klagenfurt. Allerdings wurde sie schon einmal hierhin eingeladen, 1980. Doch Helga Schubert, in der DDR lebend, durfte nicht einreisen, u.a. weil Marcel Reich- Ranicki, „ der Kommunistenfresser“, in der Jury saß.
„ Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung.“ Im Leben der Autorin lassen sich achtzig Jahre deutsch-deutsche Geschichte ablesen.
Helga Schubert wurde 1940 in Berlin geboren. Ihr Vater fiel an der Ostfront, als Helga ein Jahr alt war. „ Er ist ein Trauma meines Lebens: Dieser zerrissene, mir doch unbekannte Mann...“
Die Mutter flüchtet 1945 aus Hinterpommern mit der nunmehr fünfjährigen Helga vor den anrückenden Russen nach Greifswald zu den Schwiegereltern. Aufgewachsen in Ost- Berlin studierte Frau Schubert an der Humboldt- Universität Psychologie und war danach als klinische Psychologin tätig. Heute lebt sie zurückgezogen in einem kleinen Ort in Mecklenburg - Vorpommern und kümmert sich um die Pflege ihres schwerkranken Mannes. Zeitlebens hat Helga Schubert geschrieben, kurze Prosatexte, Kinderbücher, aber auch Theaterstücke, Hörspiele und Fernsehspiele. Im Westen war sie wenig bekannt. Doch das hat sich seit dem Bachmann- Preis geändert. Mit dem Text „ Vom Aufstehen“ überzeugte sie die Jury und „ Vom Aufstehen“ heißt nun auch der Erzählungsband. Neben dem Siegertitel enthält das Buch weitere 28 Geschichten unterschiedlicher Länge, meist aus der Ich- Perspektive erzählt.
„ Ein Leben in Geschichten“ - so der Untertitel - das ergibt keine vollständige Biographie. Trotzdem kommt man der Autorin, ihrem Leben und ihren Gedanken, hier sehr nahe.
Es gibt zwei immer wiederkehrende Themen, zum einen die Erfahrungen mit dem Leben in einer Diktatur, zum anderen die Beschäftigung mit der eigenen Familie und hier vor allem die schwierige Beziehung zur Mutter.
Helga Schubert schreibt über das Eingesperrtsein im „ Zwergenstaat“, von der Sehnsucht nach „der normalen zivilisierten Welt“ da draußen, vom Bespitzeln der eigenen Person und von den Privilegien eines Schriftstellers in der DDR. „ Sie ließen mich beobachten, fanden mich feindlich-negativ, und sie ließen mich trotzdem in den Westen reisen. Ein unglaubliches Privileg. Ein Privileg, das verdächtig machte,...“
Trotzdem bleibt Helga Schubert im ungeliebten Staat, ihrem Mann, ihrem Sohn zuliebe. Sie passt sich nicht an, wird aber auch keine Dissidentin.
Dem Mauerfall begrüßt sie freudig. „ Der Kaiser war nackt - mein Lieblingsmärchen wurde wahr nach achtundzwanzig Jahren, zwei Monaten und siebenundzwanzig Tagen.“
Was hat sich verändert nach der Wende? Vieles. Zum Beispiel gibt es endlich Spargel und Erdbeeren für alle, die hier leben. Nicht wie früher, als alles für Devisen in den Westen ging.
Und nun, wo die ganze Welt offen steht für Helga Schubert, braucht sie die Ferne nicht mehr. „ Seit ich ohne behördliche Erlaubnis in die weite Welt reisen darf, ist mein zerstörerisches Fernweh geheilt.“
Es sind Alltagsbeobachtungen, die sie beschreibt, oftmals kleine Details, die aber auf das große Ganze verweisen.
Das zentrale Thema jedoch war und ist für Helga Schubert das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter. Helga erfuhr als Kind wenig Liebe, keine Zärtlichkeit, stattdessen Vorwürfe, Ablehnung, verbale Verletzungen und Schläge. Die Autorin leidet ihr Leben lang darunter. Vor allem macht sie sich Vorwürfe, weil sie ihrer Mutter keine Liebe entgegenbringen kann. Für sie, als evangelische Christin, ist das vierte Gebot wesentlich. Erst das Gespräch mit einer jungen Pastorin entlastet sie. Denn: „ Von Liebe ist im Gebot nicht die Rede. Gott verlangt von uns nicht, dass wir unsere Eltern lieben. Wir brauchen sie nur zu ehren“.
Es sind harte Sätze, die die über hundertjährige Mutter am Sterbebett zu ihrer Tochter sagt.
„ Ich habe drei Heldentaten vollbracht, die dich betrafen. Erstens: Ich habe dich nicht abgetrieben, obwohl dein Vater das wollte. Und für mich kamst du eigentlich auch unerwünscht. Wir haben deinetwegen im fünften Monat geheiratet. Zweitens: Ich habe dich bei der Flucht aus Hinterpommern bis zur Erschöpfung in einem dreirädrigen Kinderwagen im Treck bis Greifswald geschoben, und drittens : Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen, als die Russen in Greifswald einmarschierten.“ Doch zu diesem Zeitpunkt ist Helga Schubert zum Vergeben bereit. „Ich verdanke dir, dass ich lebe, es ist alles gut.“
Denn das Buch ist keine Abrechnung mit der Mutter. Helga Schubert versucht zu ergründen, warum ihre Mutter zu der werde, die sie war: Ein prügelnder Vater, jung verwitwet, alleinstehend mit Kind, die Flucht als lebenslanges Trauma. Es war ein hartes, kein glückliches Leben, das die Mutter gehabt hat.
Es finden sich aber noch andere Geschichten im Buch, Erinnertes, Betrachtungen und Überlegungen. Eine bestimmte Chronologie ist nicht erkennbar, wobei der prämierte Text „ Vom Aufstehen“ gewissermaßen die Quintessenz darstellt. Doch jede Geschichte steht für sich selbst.
In der ersten „ Mein idealer Ort“ träumt sich die Autorin zurück in die Sommerferien, die sie jedes Jahr bei der geliebten Großmutter verbracht hat. Bilder vom Liegen in der Hängematte unter Apfelbäumen, vom Duft des warmen Streuselkuchens werden heraufbeschworen. Erinnerungen, die ihr bis heute Halt geben. „ So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute.“
Die 80jährige Autorin macht sich Gedanken über das „ Alt sein“. Kein Gejammer über körperlichen und geistigen Verfall, nein. Helga Schubert sieht auch hier das Positive. „ Das ist das Gute, Sanfte, das Glückbringende am Alter: Ich muss gar nichts.“
Und man wünscht sich, dass man selbst irgendwann das gleiche Resümee ziehen kann: „ Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir....Das ist nämlich mein Schatz.
Mein unveräußerlicher.“
Helga Schubert ist gläubige Christin, davon zeugen Liedtexte und Gebete, aber ebenso ihre Überlegungen zum Osterfest. „ Heute weiß ich: In dieser einen Woche vor Ostersonntag passiert alles, was ich inzwischen vom Leben verstanden habe:
Wie schnell sich das Schicksal für einen Menschen ändert,
dass man verraten werden kann.
Dass es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg.
An diese Hoffnung will ich erinnert werden.
Einmal im Jahr.“
Es ist ungewöhnlich in der ( deutschen ) Gegenwartsliteratur, dass sich ein Autor zu seiner Religion bekennt. Die Kraft ihres Glaubens ist aber auch spürbar in Helga Schuberts Verständnis von Vergebung und Verzeihen.
Sie erinnert an Leitsätze in ihrem Leben, die sie über Jahre begleitet haben , wie ein Zitat von Marie von Ebner- Eschenbach: „ Nicht, was wir erleben, sondern wie wir erleben, was wir erleben, macht unser Leben aus.“
Die ganze Poetik ihres Schreibens umreißt Helga Schubert so : „ Die Geschichte hat etwas herausgehoben aus dem Lebensfluss, das ich nun betrachten kann, mit Freundlichkeit oder Trauer, mit Bewunderung oder Abscheu.“ Nichts erscheint ihr unwichtig, wenn man es nur genau und von allen Seiten betrachtet. Geschichten müssen keinen Anfang haben und kein Ende, denn in der Wirklichkeit gibt es auch keine solche Trennung. Wichtig ist ihr dagegen „ der letzte Satz. Vielleicht sogar eine Pointe.“ „ Geschichten als Mikroskop. Geschichten als Spiegel.“
Natürlich gibt es auch schwächere Erzählungen in dem Band ( wie es in jedem Buch starke und schwache Passagen gibt ). Dafür sind die anderen großartig. Helga Schubert ist eine kluge Beobachterin, die in einer klaren und unpathetischen Sprache schreibt, dabei voller Poesie und Rhythmus. Alles ist durchdacht, jeder Satz wohl überlegt. Aus ihr spricht Lebenserfahrung und Reife. „ Vom Aufstehen“ ist kein Buch zur schnellen Lektüre. Es erfordert einen aufmerksamen Leser, der dafür reich belohnt wird.