Rezension Rezension (5/5*) zu Das Wanderkind: Roman von Aude.

Renie

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Zwillinge

Der Roman "Das Wanderkind" der kanadischen Autorin Aude ist der literarische Beweis für die Aussage "Weniger ist mehr". Denn dieses dünne Büchlein, mit gerade mal 130 Seiten kommt mit einer Wahnsinns-Geschichte daher, die den Leser mit einer erzählerischen Wucht umbläst. Darauf war ich definitiv nicht vorbereitet.

Die Wahnsinns-Geschichte ist schnell erzählt: Eine Familie erwartet Nachwuchs. Die Mutter, Corinne, ist mit eineiigen Zwillingen schwanger. Bereits in der Schwangerschaft zeichnen sich Komplikationen ab. Einer der Jungs in ihrem Bauch ist kräftiger entwickelt als sein Bruder und raubt ihm sämtliche Energien und Lebenskraft. Er wächst und gedeiht im Bauch der Mutter auf Kosten seines Bruders.
Dieser Zustand wird sich auch nach der Geburt nicht ändern und ein Leben lang anhalten. Der eine Bruder, Hans, ist der starke, vor Kraft strotzende Zwilling, der andere Bruder, der Kleine, ist der schwache und zurückgebliebene Zwilling. Hans ist der dominante Zwilling, der für den Zustand seines Bruders verantwortlich ist, der Kleine ist das Opfer. Doch am Ende erweist sich diese Rollenverteilung nur als eine Frage der Sichtweise.

"Corinne hat ihn nie geliebt. Da ist sich Hans sicher. Für sie ist er schon immer der Henker seines Bruders. Ein Monster! Er weiß noch genau, wie sie, als sie noch klein waren, ihm angewidert beim Essen zugesehen hat, weil er immer Hunger hatte, während der Kleine wie ein Spatz gegessen hat."

Dieser Roman erzählt in zeitlich aufeinander folgenden Episoden die Geschichte dieser Familie, von der Schwangerschaft der Mutter, über die Kindheit der Zwillinge, bis hin zu deren Erwachsensein. Im Mittelpunkt steht die Beziehung der Zwillinge zueinander, wobei die Sichtweise von Hans die maßgebliche ist. Das Leben der Zwillinge ist wie eine Fortsetzung der Zeit, die sie im Mutterbauch verbracht haben. Hans braucht seinen Zwilling, um in Leben zurechtzukommen. Er lässt nicht zu, dass andere - weder die ältere Schwester der Beiden noch die Eltern - an dieser Verbindung teilhaben.

"Seit ihrer Geburt haben viele Menschen auf verschiedene Weise versucht, die Zwillingszelle zum Platzen zu bringen, als ob sie eine Bedrohung wäre. Keiner hat es geschafft."

Wie andere diese Verbindung bewerten und was sie mit ihnen macht, erfahren wir durch Wechsel in der Erzählperspektive von Hans auf die Eltern sowie die Schwester.

Eine Sichtweise fehlt: die des Kleinen - eine Bezeichnung, die sich jeder angewöhnt hat, wenn von diesem Zwilling die Rede ist. Man sollte meinen, dass er namenlos ist (er heisst Benoit). Er ist einfach nur präsent, wird von allen geliebt, nimmt aber so gut wie keinen Anteil an der Handlung. Doch seine Anwesenheit in dieser Geschichte ist immer spürbar. Mit diesem besonderen Protagonisten hat die Autorin ein Figur erschaffen, die nicht real wirkt, aber wie ein guter Geist über die Familie und über seinen Bruder im Besonderen wacht.
Mehr möchte ich über die Familie nicht erzählen. Die Buchbeschreibung des Verlags gibt noch weniger von dem Inhalt Preis.

"Ein Zwillingspaar, der eine groß und kräftig, der andere klein und zerbrechlich. Einem von ihnen ist es bestimmt, den anderen am Leben zu erhalten."

Doch ohne meine Angaben zum Inhalt könnte ich nicht wiedergeben, welche Entwicklung dieser Roman beim Lesen genommen hat und welche Wirkung er am Ende auf mich hatte.

Das Szenario des einen Zwillings, der auf Kosten des Anderen überlebt, ist unvorstellbar schmerzlich und traumatisch für alle Beteiligten. Ich bin daher von einer Geschichte ausgegangen, die sich auf die Trauer über den Verlust sowie das Leben mit der vermeintlichen Schuld konzentriert. Die Autorin schlägt jedoch einen anderen Weg ein: sie erzählt die Geschichte von zwei ungleichen Brüdern und deren emotionaler Abhängigkeit voneinander. Der Eine kann nicht ohne den Anderen und nimmt Einfluss auf dessen Entwicklung. Und am Ende wird der Eine gelernt haben, ohne den Anderen zu leben.

Diese Geschichte geht zu nahe und ist aufwühlend. Denn Schmerz und Glück sind hier so eng miteinander verwoben, dass sie sich kaum voneinander trennen lassen. Ähnlich wie die beiden Zwillinge.

Die kanadische Autorin Claudette Charbonneau (alias Aude) gilt als eine der wichtigsten Autorinnen der frankokanadischen Literaturszene. Der Roman "Das Wanderkind" hat in ihrem Land sehr viel Beachtung gefunden. Leider verstarb sie bereits im Jahre 2012 an einer Krebserkrankung. Es gibt nur 5 Romane sowie etliche Kurzgeschichten von ihr, die - soweit mir bekannt ist - bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind (Ausnahme: Das Wanderkind). Ich hoffe doch sehr, dass dies bald nachgeholt wird. Denn "Das Wanderkind" ist große Erzählkunst, welche die Gier nach weiteren Geschichten dieser Autorin bei mir geweckt hat.

© Renie


 

RuLeka

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Der Roman "Das Wanderkind" der kanadischen Autorin Aude ist der literarische Beweis für die Aussage "Weniger ist mehr". Denn dieses dünne Büchlein, mit gerade mal 130 Seiten kommt mit einer Wahnsinns-Geschichte daher, die den Leser mit einer erzählerischen Wucht umbläst. Darauf war ich definitiv nicht vorbereitet.

Die Wahnsinns-Geschichte ist schnell erzählt: Eine Familie erwartet Nachwuchs. Die Mutter, Corinne, ist mit eineiigen Zwillingen schwanger. Bereits in der Schwangerschaft zeichnen sich Komplikationen ab. Einer der Jungs in ihrem Bauch ist kräftiger entwickelt als sein Bruder und raubt ihm sämtliche Energien und Lebenskraft. Er wächst und gedeiht im Bauch der Mutter auf Kosten seines Bruders.
Dieser Zustand wird sich auch nach der Geburt nicht ändern und ein Leben lang anhalten. Der eine Bruder, Hans, ist der starke, vor Kraft strotzende Zwilling, der andere Bruder, der Kleine, ist der schwache und zurückgebliebene Zwilling. Hans ist der dominante Zwilling, der für den Zustand seines Bruders verantwortlich ist, der Kleine ist das Opfer. Doch am Ende erweist sich diese Rollenverteilung nur als eine Frage der Sichtweise.

"Corinne hat ihn nie geliebt. Da ist sich Hans sicher. Für sie ist er schon immer der Henker seines Bruders. Ein Monster! Er weiß noch genau, wie sie, als sie noch klein waren, ihm angewidert beim Essen zugesehen hat, weil er immer Hunger hatte, während der Kleine wie ein Spatz gegessen hat."

Dieser Roman erzählt in zeitlich aufeinander folgenden Episoden die Geschichte dieser Familie, von der Schwangerschaft der Mutter, über die Kindheit der Zwillinge, bis hin zu deren Erwachsensein. Im Mittelpunkt steht die Beziehung der Zwillinge zueinander, wobei die Sichtweise von Hans die maßgebliche ist. Das Leben der Zwillinge ist wie eine Fortsetzung der Zeit, die sie im Mutterbauch verbracht haben. Hans braucht seinen Zwilling, um in Leben zurechtzukommen. Er lässt nicht zu, dass andere - weder die ältere Schwester der Beiden noch die Eltern - an dieser Verbindung teilhaben.

"Seit ihrer Geburt haben viele Menschen auf verschiedene Weise versucht, die Zwillingszelle zum Platzen zu bringen, als ob sie eine Bedrohung wäre. Keiner hat es geschafft."

Wie andere diese Verbindung bewerten und was sie mit ihnen macht, erfahren wir durch Wechsel in der Erzählperspektive von Hans auf die Eltern sowie die Schwester.

Eine Sichtweise fehlt: die des Kleinen - eine Bezeichnung, die sich jeder angewöhnt hat, wenn von diesem Zwilling die Rede ist. Man sollte meinen, dass er namenlos ist (er heisst Benoit). Er ist einfach nur präsent, wird von allen geliebt, nimmt aber so gut wie keinen Anteil an der Handlung. Doch seine Anwesenheit in dieser Geschichte ist immer spürbar. Mit diesem besonderen Protagonisten hat die Autorin ein Figur erschaffen, die nicht real wirkt, aber wie ein guter Geist über die Familie und über seinen Bruder im Besonderen wacht.
Mehr möchte ich über die Familie nicht erzählen. Die Buchbeschreibung des Verlags gibt noch weniger von dem Inhalt Preis.

"Ein Zwillingspaar, der eine groß und kräftig, der andere klein und zerbrechlich. Einem von ihnen ist es bestimmt, den anderen am Leben zu erhalten."

Doch ohne meine Angaben zum Inhalt könnte ich nicht wiedergeben, welche Entwicklung dieser Roman beim Lesen genommen hat und welche Wirkung er am Ende auf mich hatte.

Das Szenario des einen Zwillings, der auf Kosten des Anderen überlebt, ist unvorstellbar schmerzlich und traumatisch für alle Beteiligten. Ich bin daher von einer Geschichte ausgegangen, die sich auf die Trauer über den Verlust sowie das Leben mit der vermeintlichen Schuld konzentriert. Die Autorin schlägt jedoch einen anderen Weg ein: sie erzählt die Geschichte von zwei ungleichen Brüdern und deren emotionaler Abhängigkeit voneinander. Der Eine kann nicht ohne den Anderen und nimmt Einfluss auf dessen Entwicklung. Und am Ende wird der Eine gelernt haben, ohne den Anderen zu leben.

Diese Geschichte geht zu nahe und ist aufwühlend. Denn Schmerz und Glück sind hier so eng miteinander verwoben, dass sie sich kaum voneinander trennen lassen. Ähnlich wie die beiden Zwillinge.

Die kanadische Autorin Claudette Charbonneau (alias Aude) gilt als eine der wichtigsten Autorinnen der frankokanadischen Literaturszene. Der Roman "Das Wanderkind" hat in ihrem Land sehr viel Beachtung gefunden. Leider verstarb sie bereits im Jahre 2012 an einer Krebserkrankung. Es gibt nur 5 Romane sowie etliche Kurzgeschichten von ihr, die - soweit mir bekannt ist - bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind (Ausnahme: Das Wanderkind). Ich hoffe doch sehr, dass dies bald nachgeholt wird. Denn "Das Wanderkind" ist große Erzählkunst, welche die Gier nach weiteren Geschichten dieser Autorin bei mir geweckt hat.

© Renie



Die Rezension macht mich neugierig und sie passt in meinen diesjährigen Leseschwerpunkt Kanada. Schön, dass Du mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht hast.
 
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